Mein Leben und Streben | Page 6

Karl May
Uebermass im Zorn, unfaehig, sich zu beherrschen. Er besass hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der grossen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleisse fliessend lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besass zu allem, was noetig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, das machten seine Haende nach. Obgleich nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so uebel. Als ich eine Geige haben musste und er kein Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem fehlte es zwar ein wenig an schoener Schweifung und Eleganz, aber er genuegte vollstaendig, seine Bestimmung zu erfuellen. Vater war gern fleissig, doch befand sich sein Fleiss stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die uebrigen vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. Waehrend dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzuernen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterliess, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte "birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Zuechtigung im grossen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden vorueber waren, so hatten wir nichts mehr zu befuerchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele laechelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gefuehl, dass wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht mehr konnte. Unsere aelteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, heiteres, fleissiges Maedchen, wurde sogar noch als Braut mit Ohrfeigen gezuechtigt, weil sie von einem Spaziergange mit ihrem Braeutigam etwas spaeter nach Hause kam, als ihr erlaubt worden war.
Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, dass durch die Art und Weise, in der man mich umstuermt, jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich schreibe dieses Buch auch nicht fuer meine Freunde, denn die kennen, verstehen und begreifen mich, so dass ich nicht erst noetig habe, ihnen Aufklaerung ueber mich zu geben. Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n, um ueber mich klar zu werden und mir ueber das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht einfaellt, mir ihre Suenden einzugestehen, sondern ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird fuer mich massgebend sein. Es sind fuer mich also nicht gewoehnliche, sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur fuer dieses, sondern auch fuer jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir wahrlich, wahrlich gleichgueltig sein, was man in diesem oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz andere, in die richtigen Haende, naemlich in die Haende des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da laesst sich nichts verschweigen und nichts beschoenigen. Da muss man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch noch so pietaetlos und tue es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck "Karl May-Problem" erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen denen loesen, welche meine Buecher nicht gelesen oder nicht begriffen haben und trotzdem ueber sie urteilen. Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem grossen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualitaet transponiert. Und genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu loesen ist, ist auch das Karl May-Problem zu loesen, anders nicht! Wer sich unfaehig zeigt, das Karl May-Raetsel in befriedigender, humaner Weise zu loesen, der mag um Gottes Willen die schwachen Haende und die unzureichenden Gedanken davon lassen, ueber sich selbst hinaus zu greifen und sich
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