Mary, Erzaehlung | Page 8

Bjornstjerne Bjornson
fragte bei ihr an,
ob sie zu ihm kommen, seinem Hause vorstehen und sein Kind
erziehen wolle. Sie sagte ohne Zoegern telegraphisch zu, und in
weniger als einem Monat hatte sie alles verkauft, war abgereist und
hatte sich in ihren neuen Wirkungskreis begeben. Ein Hueftleiden, das
sie schon lange plagte, hatte sich verschlimmert, so dass ihr das Gehen
schwer fiel. Aber von ihrem Rollstuhl aus, den sie mitgebracht hatte,
und den ihre behaebige Person vollstaendig ausfuellte, leitete sie das
ganze Haus, ihn selbst inbegriffen. Er war ganz erschrocken ueber ihre
Tuechtigkeit. Sie kam selten aus ihrem Stuhl heraus, aber trotzdem
wusste sie alles, was geschah. Waende hemmten ihren Blick nicht, eine
Entfernung gab es nicht fuer sie. Groesstenteils liess sich das aus der
Schaerfe ihrer Sinne erklaeren, aus ihrer Faehigkeit, Worte und Zeichen
zu deuten, in Mienen und Augen zu lesen, zu riechen und zu hoeren,
Schluesse zu ziehen aus dem, was sie wusste,--und siebentens und
letztens daraus, dass sie zu fragen verstand. Aber einiges war auch
nicht zu erklaeren. Drohte einem, den sie lieb hatte, eine Gefahr, so
fuehlte sie das, wo sie auch war. Sie schrie auf--in solchen
Augenblicken sprach sie immer englisch--und war auf den Beinen und
Feuer und Flamme. So zum Beispiel an dem denkwuerdigen Tage, da
Marit mit ihrem Rad in den Fluss gefallen war und durch Maenner vom
Dampfer aus aufgefischt wurde; denn unten an der Landungsbruecke,

wohin sie gewollt hatte, war das Unglueck geschehen. Da stiessen sie
und Frau Dawes aufeinander, die eine triefend von Naesse und heulend,
die andere triefend von Schweiss und auch heulend.
Frau Dawes machte taeglich ihre Runde durch das Haus und, wenn es
noetig war, auch um das Haus herum. Weiter kam sie selten. Auf
diesem Rundgang sah sie alles, auch das, was erst spaeter geschah,
versicherten die Maegde.
Sie hatte etwas Schwimmendes an sich. Sie schwamm bestaendig in
Papier. Ihre Korrespondenz, die, wie Anders Krog behauptete, alle
Personen umfasste, die sie einmal in Pension gehabt hatte, setzte sie
ununterbrochen fort. In allen Sprachen und ueber alle Dinge; denn ihre
zweite Hauptbeschaeftigung war: das, was sie las--und sie las bis tief in
die Nacht hinein--in ihre Korrespondenz hineinzubringen. Sie drehte
sich nach dem Tisch mit dem Schreibpult um, sie wandte sich fort vom
Tisch, um zu lesen. An der Stuhllehne war eine Lesepultmechanik
angebracht, worauf das Buch lag; in der Hand hielt sie es selten. Sie
zog Memoiren jeder andern Lektuere vor, und davon plauderte sie
nachher in ihren Briefen. In zweiter Reihe kamen Kunstzeitschriften
und Reiseliteratur. Sie hatte ein kleines Vermoegen und kaufte sich
alles, was ihr gefiel.
Das Kind unterrichtete sie nebenbei. In der Wohnstube an dem grossen
Tisch sassen sie, "Tante Eva" in ihrem Thronsessel, die Kleine ihr
gegenueber. Immer aber, wenn es noetig war, musste Marit an Tante
Evas Pult kommen. Der Unterricht ging so leicht vonstatten, dass die
Kleine oft vergass, dass es Schule war. Ja, selbst der Vater, der seine
Bibliothek dicht daneben hatte, vergass es oft, wenn er hereinkam und
das Gespraech oder die Erzaehlung mit anhoerte.
War der Unterricht leicht, so waren andre Dinge sehr schwierig und
fuehrten zu Kaempfen. Das ganze Verhalten des Kindes wollte sie
aendern, und da war ihr der Vater im Wege. Aber er wurde natuerlich
geschlagen, und noch ehe er ahnte, was Frau Dawes beabsichtigte.
Marit sollte gehorchen lernen, sie sollte einen Begriff von bestimmter
Zeiteinteilung, von Ordnung, von Hoeflichkeit, von Takt bekommen.
Sie sollte jeden Tag Klavier ueben, sie sollte bei Tisch huebsch gerade
sitzen und sich die Haende unzaehlige Male am Tage waschen; sie
sollte immer sagen, wohin sie gehe. Und nichts von all dem wollte sie.
Eigentlich auch der Vater nicht.

Frau Dawes hatte einen einzigen festen Punkt, von dem sie ausgehen
konnte. Das war der unerschuetterliche Glaube des Kindes an die
Vollkommenheit seiner Mutter. Frau Dawes wusste sie davon zu
ueberzeugen, dass die Mutter nie spaeter als um acht Uhr schlafen
gegangen sei. Sie habe immer vorher ihre Kleider ordentlich auf einen
Stuhl gelegt und ihre Schuhe vor die Tuer gestellt.
Von dem, was die Mutter getan und bis zur Vollkommenheit getan
hatte, ging sie zu dem ueber, was die Mutter getan haette, wenn sie an
Marits Stelle gewesen waere; und vor allem, was sie nicht getan haette,
wenn sie Marit waere. Das war schwieriger. So als Frau Dawes
versicherte, die Mutter sei immer nur so weit geradelt, wie man sie
sehen konnte. "Woher weisst Du das?" fragte Marit.--"Ich weiss es
daher, dass Dein Vater und Deine Mutter nie voneinander getrennt
waren."--"Das ist wahr, Marit", fiel der Vater ein, froh, dass er auch
einmal zu dem ja sagen konnte, was Frau Dawes einfiel; denn das
meiste war doch durchaus nicht wahr.
Je weiter der Unterricht fortschritt, desto mehr Freude machte es Frau
Dawes selbst, und desto groesseren Einfluss gewann sie auf das Kind.
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