Mary, Erzaehlung | Page 9

Bjornstjerne Bjornson

Sie machte es sich zur Aufgabe, das Traumleben Marits auszuroden,
das ein Erbteil der Mutter war und in ueppiger Bluete stand, solange
der Vater zuhoerte und seinen Spass daran hatte.
Einmal im Fruehjahr kam Marit schnell herein und erzaehlte ihrem
Vater, in dem alten Baum zwischen den Graebern der Mutter und der
Grossmutter sei ein kleines Nest und in dem Nest seien ganz, ganz
kleine Eier. "Das ist ein Gruss von Mutter, nicht?" Er nickte und ging
mit ihr, um es zu besehen. Als sie aber naeher kamen, flog der Vogel
auf und piepte jaemmerlich. "Mutter sagt, wir sollen nicht naeher
heran?" fragte sie ihren Vater.--Er bejahte es. "Dann wuerden wir
Mutter stoeren?" fragte sie weiter. Er nickte.----Sie gingen
seelenvergnuegt wieder nach Hause und sprachen den ganzen Weg von
Mutter. Als Marit Frau Dawes hiervon erzaehlte, sagte sie: "Das sagt
Dein Vater nur, um Dich nicht zu betrueben, Kind. Koennte Deine
Mutter Dir eine Botschaft senden, so kaeme sie selbst."--Die
Revolution, die diese wenigen grausamen Worte anrichteten, war nicht
abzusehen. Sie veraenderten auch das Verhaeltnis zum Vater.----
Die Schule ging ihren regelrechten Gang, die Erziehung auch, bis Marit
nahezu dreizehn Jahr alt war, lang und duenn und grossaeugig mit

ueppigem, rotem Haar und weisser, zarter Haut ohne Sommersprossen,
was Frau Dawes' besonderer Stolz war.
Da kam der Vater eines Tages aus der Bibliothek herein und unterbrach
den Unterricht. Das war in den ganzen Jahren nicht ein einzigesmal
geschehen. Marit bekam frei; Frau Dawes ging mit dem Vater in die
Bibliothek. "Bitte lesen Sie diesen Brief!"--
Sie las und erfuhr,--wovon sie nicht die leiseste Ahnung gehabt
hatte,--dass der Mann, der vor ihr stand und ihr Gesicht waehrend des
Lesens beobachtete, ein Millionaer war, kein Kronen-, nein, ein
Dollarmillionaer. Er hatte seit dem Tode des Onkels nach der ersten
vorlaeufigen Ausbezahlung der Bankguthaben und Aktien als
Kompagnon des Bruders nichts wieder abgehoben,--und dies war das
Resultat.
"Ich gratuliere Ihnen", sagte Frau Dawes und fasste seine rechte Hand
mit ihren beiden. Ihr standen die Traenen in den Augen. "Ich verstehe
Sie, lieber Krog; Sie wuenschen, dass wir jetzt auf Reisen gehen?" Er
sah sie mit seinen leuchtenden Augen lachend an. "Haben Sie etwas
dagegen, Frau Dawes?"--"Durchaus nicht, wenn wir die noetige
Bedienung mitnehmen; ich bin ja einmal so schlecht zu Fuss."--"Das
sollen Sie haben, und ueberall halten wir uns einen Wagen. Der
Unterricht kann fortgesetzt werden, nicht wahr?"--"Ob er kann! Nur um
so besser!" Sie lachte und weinte zugleich, und sie sagte selbst, so
gluecklich sei sie noch nie gewesen.
Vierzehn Tage spaeter hatten die drei mit einem Diener und einem
Maedchen Krogskog verlassen.
* * * * *
Der Thronwechsel
So gingen zweieinhalb Jahre hin, in denen der Vater einige Male in
Norwegen war, aber die anderen nicht. Dann dachten sie ernstlich
daran, einen Sommer in Krogskog zu verbringen. Aus diesem Grunde
standen sie alle drei in einem Konfektionsgeschaeft in Wien. Frau
Dawes und Marit sollten neue Kleider haben, besonders Marit, die aus
ihren herausgewachsen war. Es war in den ersten Tagen des Mai, und
es handelte sich um Sommerkleider.
"Dein Vater und ich, wir finden beide, Du musst jetzt lange Kleider
haben. Du bist schon so gross." Marit blickte zu ihrem Vater hin, aber
die Stoffe, die vor ihnen ausgebreitet lagen, hielten seinen Blick fest.

Frau Dawes sprach statt seiner. "Dein Vater hat oft gesagt, wenn Du
mit ihm gehst, sehen die Herren Dir so nach den Beinen."--Der Vater
wurde unruhig; selbst das Fraeulein hinter dem Ladentisch merkte, dass
ein Gewitter in der Luft lag. Sie verstand die Sprache nicht, aber sie sah
die drei Gesichter. Schliesslich hoerte der Vater Marit mit einer
fremden, aber freundlichen Stimme antworten: "Soll ich jetzt lange
Kleider haben, weil Mutter, als sie in meinem Alter war, auch welche
trug?"--Frau Dawes sah erschrocken Anders Krog an; er aber wandte
sich ab. Dann wieder Marit: "Tante Eva, Du warst doch natuerlich mit
Mutter zusammen, als sie damals lange Kleider bekam? Oder Vater
vielleicht?"
Dann wurde nicht mehr von langen Kleidern gesprochen. Es wurde
ueberhaupt nicht mehr gesprochen. Sie gingen fort.
Weiter geschah nichts. Es ergab sich von selbst, dass sie am naechsten
Tage, statt zum Unterricht zu kommen, mit dem Vater ausfuhr, um die
Sache mit den Kleidern zu ordnen. Des weiteren, dass sie sich von dort
in die Museen begaben. Sie setzten diese taeglichen Ausfahrten bis zur
Abreise fort. Mit dem Unterricht war es vorbei. Als sei nichts
vorgefallen, gingen sie jeden Abend zu Dreien ins Konzert oder in die
Oper oder ins Schauspiel. Sie wollten die Zeit, die ihnen noch blieb,
ausnutzen.
In den ersten Tagen des Juni waren sie in Kopenhagen. Hier erwartete
sie ein Brief von Onkel Klaus. Joergen Thiis, sein Pflegesohn, sei
Leutnant geworden; Klaus wolle draussen in seinem Landhause einen
Fruehlingsball geben, aber er warte damit, bis sie heimkaemen. Wann
sie kaemen?
Darauf
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