Laokoon | Page 3

Gotthold Ephraim Lessing
hier will ich ausgehen, und meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie sich bei mir entwickelt.
"Laokoon leidet, wie des Sophokles Philoktet." Wie leidet dieser? Es ist sonderbar, da? sein Leiden so verschiedene Eindrücke bei uns zurückgelassen.--Die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle heilige Handlungen st?rte, erschollen nicht minder schrecklich durch das ?de Eiland, und sie waren es, die ihn dahin verbannten. Welche T?ne des Unmuts, des Jammers, der Verzweiflung, von welchen auch der Dichter in der Nachahmung das Theater durchhallen lie?.--Man hat den dritten Aufzug dieses Stücks ungleich kürzer, als die übrigen gefunden. Hieraus sieht man, sagen die Kunstrichter 2), da? es den Alten um die gleiche L?nge der Aufzüge wenig zu tun gewesen. Das glaube ich auch; aber ich wollte mich desfalls lieber auf ein ander Exempel gründen, als auf dieses. Die jammervollen Ausrufungen, das Winseln, die abgebrochenen a, a, jeu, attatai, w moi, moi! die ganzen Zeilen voller papai, papai, aus welchen dieser Aufzug bestehet, und die mit ganz andern Dehnungen und Absetzungen deklamieret werden mu?ten, als bei einer zusammenhangenden Rede n?tig sind, haben in der Vorstellung diesen Aufzug ohne Zweifel ziemlich ebensolange dauren lassen, als die andern. Er scheinet dem Leser weit kürzer auf dem Papiere, als er den Zuh?rern wird vorgekommen sein.
{2. Brumoy, Théat. des Grecs T. II. p. 89.}
Schreien ist der natürliche Ausdruck des k?rperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die geritzte Venus schreiet laut 3); nicht um sie durch dieses Geschrei als die weichliche G?ttin der Wollust zu schildern, vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben. Denn selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gr??lich, als schrien zehntausend wütende Krieger zugleich, da? beide Heere sich entsetzen 4).
{3. Iliad. E. v. 343. h de mega iacousa--}
{4. Iliad. E. v. 859.}
Soweit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die ?u?erung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Tr?nen, oder durch Scheltworte ank?mmt. Nach ihren Taten sind es Gesch?pfe h?herer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen.
Ich wei? es, wir feinern Europ?er einer klügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. H?flichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tr?nen. Die t?tige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser gr??er, als in jener. Aber unsere Ureltern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbei?en, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts 5). Palnatoko gab seinen Jomsburgern das Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu nennen.
{5. Th. Bartholinus de causis contemptae a Danis adhuc gentilibus mortis, cap. I.}
Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er ?u?erte seine Schmerzen und seinen Kummer; er sch?mte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mu?te ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verh?rtung entsprang, das wirkten bei ihm Grunds?tze. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, solange keine ?u?ere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine Klarheit noch seine K?lte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schw?rzte.--Wenn Homer die Trojaner mit wildem Geschrei, die Griechen hingegen in entschlo?ner Stille zur Schlacht führet, so merken die Ausleger sehr wohl an, da? der Dichter hierdurch jene als Barbaren, diese als gesittete V?lker schildern wollen. Mich wundert, da? sie an einer andern Stelle eine ?hnliche charakteristische Entgegensetzung nicht bemerket haben 6). Die feindlichen Heere haben einen Waffenstillestand getroffen; sie sind mit Verbrennung ihrer Toten besch?ftigst, welches auf beiden Teilen nicht ohne hei?e Tr?nen abgehet; dakrua Jerma ceonteV. Aber Priamus verbietet seinen Trojanern zu weinen; oud' eia klaiein PriamoV megaV. Er verbietet ihnen zu weinen, sagt die Dacier, weil er besorgt, sie m?chten sich zu sehr erweichen, und morgen mit weniger Mut an den Streit gehen. Wohl; doch frage ich: warum mu? nur Priamus dieses besorgen? Warum erteilet nicht auch Agamemnon seinen Griechen das n?mliche Verbot? Der Sinn des Dichters geht tiefer. Er will uns lehren, da? nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein k?nne; indem der ungesittete Trojaner, um es zu sein, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse. Nemessvmai ge men ouden klaiein, l??t er an einem andern Orte 7) den verst?ndigen Sohn des weisen Nestors sagen.
{6. Iliad. H. v. 421.}
{7. Odyss. D. 195.}
Es ist merkwürdig, da? unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem Altertume
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