Kritik der reinen Vernunft (1st edition) | Page 7

Immanuel Kant
kann. Dieser aber kann
vermieden werden, wenn man seine Erdichtungen behutsam macht,
ohne daß sie deswegen weniger Erdichtungen bleiben. Die Mathematik
gibt uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der
Erfahrung in der Erkenntnis a priori bringen können. Nun beschäftigt
sie sich zwar mit Gegenständen und Erkenntnissen, bloß so weit als
sich solche in der Anschauung darstellen lassen. Aber dieser Umstand
wird leicht übersehen, weil gedachte Anschauung selbst a priori
gegeben werden kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum
unterschieden wird. Durch einen solchen Beweis von der Macht der
Vernunft aufgemuntert, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen.
Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren
Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im
luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato
die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so vielfältige Hindernisse legt,
und wagte sich jenseit derselben auf den Flügeln der Ideen, in den
leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch
seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen
Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran
er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu
bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen
Vernunft in der Spekulation ihr Gebäude so früh, wie möglich,
fertigzumachen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der
Grund dazu gut gelegt sei. Alsdann aber werden allerlei
Beschönigungen herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu
trösten, oder eine solche späte und gefährliche Prüfung abzuweisen.
Was uns aber während dem Bauen von aller Besorgnis und Verdacht
freihält, und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein
großer Teil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte unserer
Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von
Gegenständen haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen,
die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen
desjenigen sind, was in unsern Begriffen, (wiewohl noch auf
verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form
nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der
Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht
erweitern, sondern nur auseinander setzen. Da dieses Verfahren nun

eine wirkliche Erkenntnis a priori gibt, die einen sichern und nützlichen
Fortgang hat, so erschleicht die Vernunft, ohne es selbst zu merken,
unter dieser Vorspiegelung Behauptungen von ganz anderer Art, wo die
Vernunft zu gegebenen Begriffen a priori ganz fremde hinzutut, ohne
daß man weiß, wie sie dazu gelangen und ohne sich diese Frage auch
nur in die Gedanken kommen zu lassen. Ich will daher gleich anfangs
von dem Unterschiede dieser zweifachen Erkenntnisart handeln.

Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile
In allen Urteilen, worinnen das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat
gedacht wird, (wenn ich nur die bejahenden erwäge: denn auf die
verneinenden ist die Anwendung leicht) ist dieses Verhältnis auf
zweierlei Art möglich. Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A
als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckterweise) enthalten ist;
oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in
Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, im
andern synthetisch. Analytische Urteile (die bejahenden) sind also
diejenigen, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt
durch Identität, diejenigen aber, in denen diese Verknüpfung ohne
Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen. Die ersteren
könnte man auch Erläuterungs-, die anderen Erweiterungs-Urteile
heißen, weil jene durch das Prädikat nichts zum Begriff des Subjekts
hinzutun, sondern diesen nur durch Zergliederung in seine Teilbegriffe
zerfällen, die in selbigen schon, (obschon verworren) gedacht waren:
dahingegen die letzteren zu dem Begriffe des Subjekts ein Prädikat
hinzutun, welches in jenem gar nicht gedacht war, und durch keine
Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden, z.B.
wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisch
Urteil. Denn ich darf nicht aus dem Begriffe, den ich mit dem Wort
Körper verbinde, hinausgehen, um die Ausdehnung als mit demselben
verknüpft zu finden, sondern jenen Begriff nur zergliedern, d.i. des
Mannigfaltigen, welches ich jederzeit in ihm denke, nur bewußt werden,
um dieses Prädikat darin anzutreffen; es ist also ein analytisches Urteil.
Dagegen, wenn ich sage: alle Körper sind schwer, so ist das Prädikat
etwas ganz anderes, als das, was ich in dem bloßen Begriff eines
Körpers überhaupt denke. Die Hinzufügung eines solchen Prädikats
gibt also ein synthetisch Urteil.

Nun ist hieraus klar: 1. daß durch analytische Urteile unsere Erkenntnis
gar nicht erweitert werde, sondern der Begriff, den ich schon habe,
auseinandergesetzt, und mir selbst verständlich gemacht werde; 2. daß
bei synthetischen Urteilen ich außer dem Begriffe des Subjekts noch
etwas anderes (X) haben müsse, worauf sich der Verstand stützt, um
ein Prädikat, das in jenem Begriffe nicht liegt, doch als dazu gehörig zu
erkennen.
Bei empirischen oder Erfahrungsurteilen hat es hiermit gar keine
Schwierigkeit. Denn dieses X ist die vollständige Erfahrung
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