Kritik der reinen Vernunft (1st edition) | Page 5

Immanuel Kant
Fall meine
subjektive Deduktion nicht die ganze Überzeugung, die ich erwarte, bei
ihm gewirkt hätte, doch die objektive, um die es mir hier vornehmlich
zu tun ist, ihre ganze Stärke bekomme, wozu allenfalls dasjenige, was
Seite 92 bis 93 gesagt wird, allein hinreichend, sein kann.
Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, zuerst
die diskursive (logische) Deutlichkeit, durch Begriffe, dann aber auch
eine intuitive (ästhetische) Deutlichkeit, durch Anschauungen, d.i.
Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto zu fordern. Für die
erste habe ich hinreichend gesorgt. Das betraf das Wesen meines
Vorhabens, war aber auch die zufällige Ursache, daß ich der zweiten,
obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe
Genüge leisten können. Ich bin fast beständig im Fortgange meiner
Arbeit unschlüssig gewesen, wie ich es hiermit halten sollte. Beispiele
und Erläuterungen schienen mir immer nötig und flossen daher auch
wirklich im ersten Entwurfe an ihren Stellen gehörig ein. Ich sah aber
die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich
es zu tun haben würde, gar bald ein und, da ich gewahr ward, daß diese
ganz allein, im trockenen, bloß scholastischen Vortrage, das Werk
schon genug ausdehnen würden, so fand ich es unratsam, es durch
Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht notwendig
sind, noch mehr anzuschwellen, zumal diese Arbeit keineswegs dem

populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentlichen
Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nötig haben, ob
sie zwar jederzeit angenehm ist, hier aber sogar etwas Zweckwidriges
nach sich ziehen konnte. Abt Terrasson sagt zwar: wenn man die Größe
eines Buchs nicht nach der Zahl der Blätter, sondern nach der Zeit mißt,
die man nötig hat, es zu verstehen, so könne man von manchem Buche
sagen: daß es viel kürzer sein würde, wenn es nicht so kurz wäre.
Andererseits aber, wenn man auf die Faßlichkeit eines weitläufigen,
dennoch aber in einem Prinzip zusammenhängenden Ganzen
spekulativer Erkenntnis seine Absicht richtet, könnte man mit eben so
gutem Rechte sagen: manches Buch wäre viel deutlicher geworden,
wenn es nicht so gar deutlich hätte werden sollen. Denn die Hülfsmittel
der Deutlichkeit fehlen zwar in Teilen, zerstreuen aber öfters im
Ganzen, indem sie den Leser nicht schnell genug zur Überschauung des
Ganzen gelangen lassen und durch alle ihre hellen Farben gleichwohl
die Artikulation, oder den Gliederbau des Systems verkleben und
unkenntlich machen, auf den es doch, um über die Einheit und
Tüchtigkeit desselben urteilen zu können, am meisten ankommt.
Es kann, wie mich dünkt, dem Leser zu nicht geringer Anlockung
dienen, seine Bemühung mit der des Verfassers, zu vereinigen, wenn er
die Aussicht hat, ein großes und wichtiges Werk, nach dem vorgelegten
Entwurfe, ganz und doch dauerhaft zu vollführen. Nun ist Metaphysik,
nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller
Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer
Zeit, und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung, versprechen
darf, so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der
didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne
darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können. Denn es ist
nichts als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft,
systematisch geordnet. Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was
Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken
kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald
man nur das gemeinschaftliche Prinzip desselben entdeckt hat. Die
vollkommene Einheit dieser Art Erkenntnisse, und zwar aus lauter
reinen Begriffen, ohne daß irgend etwas von Erfahrung, oder auch nur
besondere Anschauung, die zur bestimmten Erfahrung leiten sollte, auf
sie einigen Einfluß haben kann, sie zu erweitern und zu vermehren,

machen diese unbedingte Vollständigkeit nicht allein tunlich, sondern
auch notwendig. Tecum habita et noris, quam sit tibi curta supellex 1).
Persius.
1. "Sieh dich in deiner eigenen Behausung um, und du wirst erkennen,
wie einfach deine Ausstattung ist".
Ein solches System der reinen (spekulativen) Vernunft hoffe ich unter
dem Titel: Metaphysik der Natur, selbst zu liefern, welches, bei noch
nicht der Hälfte der Weitläufigkeit, dennoch ungleich reicheren Inhalt
haben soll, als hier die Kritik, die zuvörderst die Qellen und
Bedingungen ihrer Möglichkeit darlegen mußte, und einen ganz
verwachsenen Boden zu reinigen und zu ebnen nötig hatte. Hier
erwarte ich an meinem Leser die Geduld und Unparteilichkeit eines
Richters, dort aber die Willfähigkeit und den Beistand eines Mithelfers;
denn, so vollständig auch alle Prinzipien zu dem System in der Kritik
vorgetragen sind, so gehört zur Ausführlichkeit des Systems selbst
doch noch, daß es auch an keinen abgeleiteten Begriffen mangle, die
man a priori nicht in Überschlag bringen kann, sondern die nach und
nach aufgesucht werden müssen, imgleichen, da dort die ganze
Synthesis der Begriffe erschöpft wurde, so wird überdem hier gefordert,
daß eben dasselbe auch in Ansehung der Analysis geschehe, welches
alles leicht und mehr Unterhaltung als Arbeit ist.
Ich habe nur noch einiges in
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