Kritik der reinen Vernunft (1st edition) | Page 4

Immanuel Kant
entsprang, aufzuheben, sollte auch noch soviel gepriesener
und beliebter Wahn dabei zu nichte gehen. In dieser Beschäftigung
habe ich Ausführlichkeit mein großes Augenmerk sein lassen und ich
erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe
sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht
wenigstens der Schlüssel dargereicht worden. In der Tat ist auch reine
Vernunft eine so vollkommene Einheit: daß, wenn das Prinzip
derselben auch nur zu einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre
eigene Natur aufgegeben sind, unzureichend wäre, man dieses
immerhin nur wegwerfen könnte, weil es alsdann auch keiner der
übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen sein würde.
Ich glaube, indem ich dieses sage, in dem Gesichte des Lesers einen
mit Verachtung gemischten Unwillen über, dem Anscheine nach, so
ruhmredige und unbescheidene Ansprüche wahrzunehmen, und
gleichwohl sind sie ohne Vergleichung gemäßigter, als die, eines jeden
Verfassers des gemeinsten Programms, der darin etwa die einfache
Natur der Seele, oder die Notwendigkeit eines ersten Weltanfanges zu
beweisen vorgibt. Denn dieser macht sich anheischig, die menschliche
Erkenntnis über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitern,
wovon ich demütig gestehe: daß dieses mein Vermögen gänzlich
übersteige, an dessen Statt ich es lediglich mit der Vernunft selbst und
ihrem reinen Denken zu tun habe, nach deren ausführlicher Kenntnis
ich nicht weit um mich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe
und wovon mir auch schon die gemeine Logik ein Beispiel gibt, daß
sich alle ihre einfachen Handlungen völlig und systematisch aufzählen
lassen; nur daß hier die Frage aufgeworfen wird, wieviel ich mit
derselben, wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung genommen
wird, etwa auszurichten hoffen dürfe.

So viel von der Vollständigkeit in Erreichung eines jeden, und der
Ausführlichkeit in Erreichung aller Zwecke zusammen, die nicht ein
beliebiger Vorsatz, sondern die Natur der Erkenntnis selbst uns aufgibt,
als der Materie unserer kritischen Untersuchung.
Noch sind Gewißheit und Deutlichkeit zwei Stücke, die die Form
derselben betreffen, als wesentliche Forderungen anzusehen, die man
an den Verfasser, der sich an eine so schlüpfrige Unternehmung wagt,
mit Recht tun kann.
Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil
gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise
erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur
ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht für den geringsten
Preis feil stehen darf, sondern sobald sie entdeckt wird, beschlagen
werden muß. Denn das kündigt eine jede Erkenntnis, die a priori
feststehen soll, selbst an, daß sie für schlechthin notwendig gehalten
werden will, und eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori
noch vielmehr, die das Richtmaß, mithin selbst das Beispiel aller
apodiktischen (philosophischen) Gewißheit sein soll. Ob ich nun das,
wozu ich mich anheischig mache in diesem Stücke geleistet habe, das
bleibt gänzlich dem Urteile des Lesers anheimgestellt, weil es dem
Verfasser nur geziemt, Gründe vorzulegen, nicht aber über die Wirkung
derselben bei seinen Richtern zu urteilen. Damit aber nicht etwas
unschuldigerweise an der Schwächung derselben Ursache sei, so mag
es ihm wohl erlaubt sein, diejenigen Stellen, die zu einigem Mißtrauen
Anlaß geben könnten, ob sie gleich nur den Nebenzweck angehen,
selbst anzumerken, um den Einfluß, den auch nur die mindeste
Bedenklichkeit des Lesers in diesem Punkte auf sein Urteil, in
Ansehung des Hauptzwecks, haben möchte, beizeiten abzuhalten.
Ich kenne keine Untersuchungen, die zur Ergründung des Vermögens,
welches wir Verstand nennen, und zugleich zur Bestimmung der
Regeln und Grenzen seines Gebrauchs, wichtiger wären, als die,
welche ich in dem zweiten Hauptstücke der transszendentalen Analytik,
unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, angestellt
habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht
unvergoltene Mühe, gekostet. Diese Betrachtung, die etwas tief
angelegt ist, hat aber zwei Seiten. Die eine bezieht sich auf die
Gegenstände des reinen Verstandes, und soll die objektive Gültigkeit

seiner Begriffe a priori dartun und begreiflich machen; eben darum ist
sie auch wesentlich zu meinen Zwecken gehörig. Die andere geht
darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und
den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in
subjektiver Beziehung zu betrachten und, obgleich diese Erörterung in
Ansehung meiner Hauptzwecks von großer Wichtigkeit ist, so gehört
sie doch nicht wesentlich zu demselben; weil die Hauptfrage immer
bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller
Erfahrung, erkennen und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst
möglich? Da das letztere gleichsam eine Aufsuchung der Ursache zu
einer gegebenen Wirkung ist, und insofern etwas einer Hypothese
Ähnliches an sich hat, (ob es gleich, wie ich bei anderer Gelegenheit
zeigen werde, sich in der Tat nicht so verhält), so scheint es, als sei hier
der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme, zu meinen, und dem Leser
also auch freistehen müsse, anders zu meinen. In Betracht dessen muß
ich dem Leser mit der Erinnerung zuvorkommen; daß, im
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