Kritik der reinen Vernunft (1st edition) | Page 3

Immanuel Kant
bringt es der Modeton des
Zeitalters so mit sich, ihre alle Verachtung zu beweisen und die
Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hecuba: modo maxima
rerum, tot generis natisque potens - nunc trahor exul, inops - Ovid.

Metam.
Anfänglich war ihre Herrschaft unter der Verwaltung der Dogmatiker,
despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten
Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach
in völlige Anarchie aus und die Skeptiker, eine Art Nomaden, die allen
beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu
Zeit die bürgerliche Vereinigung. Da ihrer aber zum Glück nur wenige
waren, so konnten sie nicht hindern, daß jene sie nicht immer aufs neue,
obgleich nach keinem unter sich einstimmigen Plane, wieder
anzubauen versuchten. In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als
sollte allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des
menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende
gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden
werden; es fand sich aber, daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen
Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und
dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtig werden müssen,
dennoch, weil diese Genealogie ihr in der Tat fälschlich angedichtet
war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles
wiederum in den veralteten wurmstichigen Dogmatismus und daraus in
die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen
wollen. Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich
versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die
Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch
zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen
Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel
angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden.
Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher
Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der
menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene
vorgeblichen Indifferentisten, so sehr sie sich auch durch die
Veränderung der Schulsprache in einem populären Tone unkenntlich zu
machen gedenken, wofern sie nur überall etwas denken, in
metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie
doch so viel Verachtung vorgaben. Indessen ist diese Gleichgültigkeit,
die sich mitten in dem Flor aller Wissenschaften ereignet und gerade
diejenigen trifft, auf deren Kenntnisse, wenn dergleichen zu haben
wären, man unter allen am wenigsten Verzicht tun würde, doch ein

Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist
offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften
Urteilskraft* des Zeitalters, welches sich nicht länger durch
Scheinwissen hinhalten läßt und eine Aufforderung an die Vernunft,
das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der
Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof
einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen
aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern
nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und
dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.
* Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart
unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe
nicht, daß die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre
usw. diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den
alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der letzteren aber sogar
übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten
von Erkenntnis wirksam beweisen, wäre nur allererst für die
Berichtigung ihrer Prinzipien gesorgt worden. In Ermanglung derselben
sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich, strenge Kritik, vielmehr
Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das
eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.
Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät,
wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie
gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung
nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt,
was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.
Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme,
sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller
Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben
mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit
einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen,
als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.
Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun
eingeschlagen und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller
Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im
erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweit hatten. Ich bin
ihren Fragen nicht dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem

Unvermögen der menschlichen Vernunft entschuldigte; sondern ich
habe sie nach Prinzipien vollständig spezifiziert und, nachdem ich den
Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie
zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst. Zwar ist die Beantwortung
jener Fragen gar nicht so ausgefallen, als dogmatisch schwärmende
Wißbegierde erwarten mochte; denn die könnte nicht anders als durch
Zauberkräfte, darauf ich mich nicht verstehe, befriedigt werden. Allein,
das war auch wohl nicht die Absicht der Naturbestimmung unserer
Vernunft; und die Pflicht der Philosophie war: das Blendwerk, das aus
Mißdeutung
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