Kater Martinchen | Page 5

Ernst Moritz Arndt
wußte nicht von
sich, und ihm war so zumute, daß er sich hätte ein Leid antun können
von wegen seiner Tochter und von wegen des Schimpfes, den sie auf
das ganze königliche Haus gebracht hatte. Und als er sich besann und
wieder zu sich kam und die ganze Schande bedachte, worein er geraten
war durch seine Tochter, da ergrimmte er in seinem Herzen, und er ließ
die schöne Svanvithe holen und schlug sie hart und zerraufte ihr Haar
und stieß sie dann von sich und befahl seinen Dienern, daß sie sie
hinausführten in ein verborgenes Gemach, daß seine Augen sie nimmer
wiedersähen. Darauf ließ er in einen mit dichten Mauern
eingeschlossenen und mit dunklen Bäumen beschatteten Garten hinter
seinem Schlosse einen düstern Turm bauen, wo weder Sonne noch
Mond hineinschien, da sperrte er die Prinzessin ein. Der Turm, den er
hatte bauen lassen, war aber fest und dicht und hatte nur ein einziges
kleines Loch in der Türe, wodurch ein wenig Licht hineinfiel und
wodurch der Prinzessin die Speise gereicht ward. Es war auch weder
Bett noch Tisch oder Bank in dem traurigen Gefängnis; auf harter Erde
mußte die liegen, die sonst auf Sammet und Seiden geschlafen hatte,
und barfuß mußte die gehen, die sonst in goldenen Schuhen geprangt
hatte. Und Svanvithe hätte sterben müssen vor Jammer, wenn sie nicht
gewußt hätte, daß sie unschuldig war, und wenn sie nicht zu Gott hätte
beten können. Sie aber war ein sehr junges Kind, als sie eingesperrt
ward, erst sechzehn Jahre alt, schön wie eine Rose und schlank und
weiß wie eine Lilie, und die Menschen, die sie liebhatten, nannten sie
nicht anders als des Königs Lilienstengelein. Und dieses süße
Lilienstengelein sollte so jämmerlich verwelken in der kalten und
einsamen Finsternis.
Und sie hatte wohl drei Jahre so gesessen zwischen den kalten Steinen,
und auch der alte König war nicht mehr froh gewesen seit jenem Tage,
als der polnische Prinz sie in die große Schande gebracht hatte, sondern
sein Kopf war schneeweiß geworden vor Gram wie der Kopf einer
Taube; aber vor den Leuten gebärdete er sich stolz und aufgerichtet und
tat, als wenn seine Tochter tot und lange begraben wäre. Sie aber saß

von der Welt ungewußt in ihrem Elende und tröstete sich allein Gottes
und dachte, daß er ihre Unschuld wohl einmal an den Tag bringen
würde. Weil sie aber in ihren einsamen Trauerstunden Zeit genug hatte,
hin und her zu denken, so fiel ihr die Sache ein von dem Königsschatze
unter dem Garzer Walle, die sie in ihrer Kindheit oft gehört hatte, und
sie gedachte damit ihre Unschuld, und daß der polnische Prinz sie unter
einem falschen Schein schändlich belogen hatte, sonnenklar zu
beweisen. Und als darauf ihr Wächter kam und ihr die Speise durch das
Loch reichte, sprach sie zu ihm: "Lieber Wächter, gehe zu dem Könige,
meinem und deinem Herrn, und sage ihm, daß seine arme einzige
Tochter ihn nur noch ein einziges Mal zu sehen und zu sprechen
wünscht in ihrem Leben und daß er ihr diese letzte Gunst nicht
versagen mag."
Und der Wächter sagte ja und lief und dachte bei sich: "Wenn der alte
König ihre Bitte nur erhört!" Denn es jammerte ihn die arme Prinzessin
unaussprechlich, und sie jammerte alle Menschen; denn sie war immer
freundlich gewesen gegen jedermann, auch hatten die meisten von
Anfang an geglaubt, daß sie fälschlich verklagt war und daß der
polnische Prinz einen argen Lügenschein auf sie gebracht hatte; denn
sie hatte sich immer aller Zucht und Jungfräulichkeit beflissen vor
jedermann.
Und als ihr Wächter vor den König trat und ihm die Bitte der
Prinzessin anbrachte, da war der alte Herr sehr zornig und schalt ihn
und drohete ihm, ihn selbst in den Turm zu werfen, wenn er den Namen
der Prinzessin vor ihm je wieder über seine Lippen laufen lasse. Und
der erschrockene Wächter ging weg. Der König aber legte sich hin und
schlief ein. Da soll er einen wunderbaren Traum gehabt haben, den kein
Mensch zu deuten verstanden hat, und er ist früh erwacht und sehr
unruhig gewesen und hat viel an seine Tochter denken müssen, bis er
zuletzt befohlen hat, daß man sie aus dem Turm heraufbrächte und vor
ihn führte.
Als Svanvithe nun vor den König trat, war sie bleich und mager, auch
waren ihre Kleider und Schuhe schon abgerissen, und sie stand fast
nackt und barfuß da und sah einer Bettlertochter ähnlicher als einer

Königstochter. Und der alte König ist bei ihrem Anblick blaß geworden
vor Jammer wie der Kalk an der Wand, aber sonst hat er sich nichts
merken lassen. Und Svanvithe hat sich vor ihm verneigt und also zu
ihm gesprochen:
"Mein König und Herr! Ich erscheine nur als eine arme Sünderin vor
dir, als eine, die an der göttlichen Gnade und an dem Lichte des
Himmels kein Recht mehr haben soll. Also
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