Jenseits der Schriftkultur, vol 5 | Page 8

Mihai Nadin
Werkzeugs--z. B. wenn es f��r eine bestimmte Aufgabe ungeeignet ist--legt nahe, ein neues Werkzeug zu entwickeln. Das Versagen von Sprache hingegen deutet auf Grenzen der menschlichen Erfahrung hin, nicht auf die des Werkzeugs. Funktionsst?rungen der Sprache verweisen auf die biologische Anlage und die Art und Weise, wie sie durch das menschliche Handeln auf die Realit?t projiziert wird. Dies gilt nicht f��r andere, weniger nat��rliche Zeichensysteme: Symbole, k��nstliche Sprachen, Meta-Sprachen.
Was sich von einer Skala des Menschen zu einer anderen ver?ndert, ist der Koeffizient der linearen Gleichung, nicht die Linearit?t als solche. Eine kleine Gruppe von Menschen kann durch Jagen, Sammeln von Fr��chten und Landbestellung ��berleben. Die Anstrengungen, die notwendig sind, um eine gr??ere Gruppe zu versorgen, wachsen proportional zur Gr??e der Gruppe. In jenen Augenblicken der Entwicklung, in denen eine kritische Masse, eine Schwelle erreicht wurde (Spracherwerb, Landbewirtschaftung, Schrift, industrielle Produktion und jetzt die post-industrielle Produktion), verursachten die Effizienzerwartungen, die der jeweiligen Skala entsprachen, Ver?nderungen im pragmatischen Rahmen. Das Bewu?tsein eines Versagens der Sprache entsteht durch Erfahrungen, die neue Sprachen notwendig machen.
Fehlkommunikation ist dann gegeben, wenn die verwendete Sprache f��r die praktische Erfahrung unpassend ist. Ein Mangel an Kommunikation zeigt die Grenzen der Menschen, die in eine bestimmte T?tigkeit eingebunden sind. Fehlkommunikation f��hrt dazu, da? Menschen (sich und andere) fragen, was und warum etwas schief gelaufen ist und was getan werden kann, um negative Folgen f��r die Effektivit?t ihrer T?tigkeit zu verhindern. Andere Arten der Fehlfunktion von Sprache k?nnen Menschen als Individuen oder als Mitglieder einer Gemeinschaft auf einer anderen Ebene als der der Kommunikation betreffen: Das Versagen von politischen Systemen, Ideologien, Religion(en), M?rkten, von Ethik oder Familie dr��ckt sich im Zusammenbruch menschlicher Beziehungsmuster aus. Wir halten aber die Sprache dieser politischen Systeme, Ideologien, Religionen und M?rkte selbst nach ihrem Scheitern am Leben; nicht zuf?llig oder aus Nachl?ssigkeit, sondern weil wir selber alle diese Sprachen sind--als Beteiligte an politischen Prozessen, Objekte ideologischer Indoktrinierung, Anh?nger einer Religion, G��ter eines Marktes, Familienmitglieder oder aufrechte B��rger. Die Ineffizienz dieser praktischen Erfahrungen spiegelt unsere eigene Ineffizienz wider, die schwieriger zu ��berwinden ist als eine Rechtschreibschw?che, etymologische Ignoranz oder phonetische Taubheit.
Die Mauer hinter der Mauer
Ein gutes Beispiel f��r die Solidarit?t zwischen Spracherfahrung und dem sich durch Sprache konstituierenden Individuum liefert der Zusammenbruch des osteurop?ischen Blocks, und pointierter noch der Zusammenbruch der Sowjetunion. Niemand hatte damit gerechnet, da? nach dem Fall der Berliner Mauer die Menschen im ?stlichen Teil Deutschlands in diesem System gefangen bleiben w��rden, obwohl sich rechtliche, soziale und wirtschaftliche Umst?nde ver?nderten. Trotz der gemeinsamen Sprache blieben die Ostdeutschen Gefangene der strukturellen Merkmale der alten Gesellschaft, die die Schriftkultur ihnen aufgepr?gt hatte: Zentralismus, klare Trennlinien, Determinismus, hierarchische Strukturen, begrenzte (Wahl-) Freiheit. Die unsichtbare, doch wirksame Konditionierung durch die ostdeutsche Bildung--derjenigen Westdeutschlands kategorisch ��berlegen--ist der neuen, in Westdeutschland erreichten Pragmatik unangemessen und erweist sich als H��rde f��r die Integration der Ostdeutschen in eine dynamische Gesellschaft. Die hocheffiziente Pragmatik--verbunden mit hohen Erwartungen, die die tats?chliche Leistung zu ��bersteigen scheinen--wurde den Ostdeutschen von der Regierung auf der anderen Seite der Grenze, die es nie h?tte geben d��rfen, aufoktroyiert.
In anderen Teilen der Welt sieht es ?hnlich aus--in Korea, Ungarn, Rum?nien, in der Tschechische Republik, in der Slowakei, in Polen, Kroatien, Serbien usw., wo pragmatische Entwicklungen und soziale, politische, wirtschaftliche, nationale und kulturelle Entwicklungen vollkommen asynchron vor sich gehen. Auf die gro?en kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen des Ostblocks habe ich in anderem Zusammenhang schon hingewiesen; auch darauf, da? die St?rke dieser auf Schriftkultur basierenden Kulturen illusorisch und reine Selbstt?uschung war.
In nicht allzu entfernter Vergangenheit lasen die Menschen dieser L?nder B��cher, besuchten Konzerte, Opern und Museen. Heute jagen sie, wenn ihre Lebensumst?nde es noch zulassen, mit der gleichen Leidenschaft hinter den Dingen her, die fr��her f��r sie unerreichbar waren, auch wenn das einer Aufgabe ihrer geistigen Errungenschaften gleichkommt. Die neue Sprache ist die Sprache des Konsums. Die alte Beziehung zwischen der Sprache des Einzelnen und der Sprache der Gesellschaft wies Merkmale von T?uschung oder Feigheit auf. Die neue Beziehung zeigt Erwartungsstrukturen, die die erreichte Effizienz weit ��bersteigen. Die Mauer hinter der Mauer zeigt sich in den sehr resistenten Mustern der Interaktion, die aus einer schriftkulturellen Praxis erwachsen sind. Angesichts dieses Beispiels m��ssen wir fragen, ob es Alternativen gibt zu den Ausdrucksmitteln, die die Menschen verwenden, und zu dem sozialen Programm, dem sie sich verpflichtet haben.
Die Botschaft ist das Medium
Sprache ist eine Form des sozialen Ged?chtnisses. Wenn wir etwas sagen oder jemandem zuh?ren, gehen wir von einem einheitlichen Gebrauch der W?rter und der ��bergeordneten linguistischen Einheiten aus. Als gespeichertes Zeugnis ?hnlicher praktischer Erfahrungen wurde die Sprache, stabilisiert in der Schrift, zum Medium, das sie auf einen gemeinsamen Durchschnitt anglich.
Die in Sprache gefa?ten menschlichen Beziehungsmuster machen den Menschen r��ckblickend die Bedeutung dieser Muster f��r die menschliche Effizienz bewu?t. Es sieht also so aus, als w��rden wir uns ��ber die eigenen Betrachtungen unserer Interaktionsmuster konstituieren. Diese Betrachtungen k?nnen wir Erkenntnis nennen, da wir einander
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