Jenseits der Schriftkultur, vol 5 | Page 9

Mihai Nadin
mittels Interaktion kennenlernen und durch Interaktion erfahren, wie, durch was und wann unsere dringendsten und weniger dringenden Bed��rfnisse befriedigt werden. Das Paradigma der Schriftkultur behauptet, da? die Selbstkonstituierung in der Sprache stattfindet, und zwar nur in der Sprache, schriftlich niedergelegt und anderen durch Lekt��re zug?nglich. Tats?chlich haben wir unser Wissen aus der Praxis menschlicher Interaktion und dem auf Sprache basierenden Informationsaustausch gewonnen. Dieses Wissen pr?gte die politischen, ideologischen, religi?sen und wirtschaftlichen Erfahrungen, unsere Bem��hungen zur st?ndigen Verbesserung der Technologien und die Entwicklung der Wissenschaft. Die Zukunftsdimension ist Grundbestandteil des Lebens, und sie erfa?t Sprache und Schriftkultur, Arbeit und pragmatische Erwartungen.
Die Sprache verk?rpert, wie jede andere semiotische Praxis, Art und Zustand des durch Sprache Konstituierten; dies gilt auch f��r die Identit?t des Menschen. Die Projektion biologischer und kultureller Merkmale auf die Alltagswelt schafft Bezugselemente. Die F?higkeit zu sehen, zu h?ren, zu riechen und Werkzeuge zu benutzen, wird durch menschliche Interaktion best?tigt. F?higkeiten und Leistung unterscheiden sich stark. Wenn es darum geht, gemeinsame Ziele zu verfolgen, fallen Selbsteinsch?tzung und die Einsch?tzung durch andere unterschiedlich aus. Sprache vermittelt, folglich werden Verpflichtungen Teil der Erfahrung. Wenn diesen nicht Folge geleistet wird, kann die Sprache zum Ersatzmedium f��r Konfrontation werden.
Einigung und Konfrontation geh?ren zu den Beziehungsmustern, die die Art der Beziehung zwischen der Sprache des einzelnen und der Sprache der Gemeinschaft definiert. Die Sozialisierung von Sprache f��hrt zu paradoxen Situationen: die sich durch die Sprache konstituierenden Menschen glauben, da? sich Konfrontationen nicht zwischen ihnen, sondern zwischen ihren Sprachen abspielen. Vor wenigen Jahren konnte man h?ren, da? Russen und Amerikaner sich gegenseitig sehr sch?tzten, obwohl in den Sprachen der Politik und der Ideologien Konflikt angelegt war. Heute h?ren wir, da? das Verh?ltnis von Ossis und Wessis emotional stark belastet ist (die einen gelten als faul, die anderen als arrogant; die einen sind kultiviert, die anderen ignorant; eine Seite ist ehrlich, die andere korrupt), obwohl sie (fast) dieselbe Sprache sprechen.
Die neue Skala der Menschheit, in der auch Demokratie--die Macht des Volkes--nicht mehr ��berzeugend funktioniert, wirft viele schwierige Fragen auf: Was, wenn ��berhaupt irgend etwas, kann die Schriftkultur ersetzten? Was k?nnte die Demokratie ersetzten? Wie befreien wir uns aus dem eisernen Griff der B��rokratie? Bevor wir eine Antwort darauf versuchen, mu? deutlich werden, da? die kulturelle Praxis der Schriftlichkeit und die soziale Praxis der Demokratie ihren H?hepunkt ��berschritten haben.
Die Frage nach dem Verh?ltnis von Schriftkultur und Macht stellt sich in einem post-schriftkulturellen Zeitalter neu, aber mit der alten Dringlichkeit. Nicht das, was ein Politiker sagt, ist wichtig, sondern wie er es sagt. Bilder, gute Regie, ein gutes B��hnenbild oder der richtige Hintergrund werden selbst zur Botschaft. Deswegen ist die Feststellung: "Die Botschaft ist das Medium", keine respektlose Umkehrung von McLuhans ber��hmter Formel, sondern sie verzeichnet die ver?nderte Beziehung zwischen Sprache und Welt. Die Interaktionen in der vernetzten Welt verdeutlichen diese Umformulierung noch besser. Die neu definierte Beziehung zwischen den vielen Sprachen unserer neuen Lebenspraxis und der Realit?t wird durch die Mittel und Werte einer Kultur jenseits der Schriftkultur wiedergegeben.
In der pomp?sen Architektur von Mitterands Palast und in der Monumentalit?t des "neuen" Berlin verwandelt sich die Botschaft der Schriftkultur--in H?he von mehreren Milliarden Mark--zu Stein und M?rtel. Im Zeitalter von Aufgabenteilung und Dezentralisierung liegt die angemessene Alternative in der virtuellen Welt und in einer verbesserten Infrastruktur f��r den Zugang zu Denken und Wissen. "Die Botschaft ist das Medium": das l??t sich auch ��bersetzen in die Forderung, die Vergangenheitsfixiertheit aufzugeben. Das setzt allerdings voraus, da? wir alternative Medien schaffen, die die Position des Einzelnen st?rken, und nicht jene Machtstrukturen, die in der Vergangenheit wichtig waren, aber heute die Entfaltung der Zukunft verhindern.
Von der Demokratie zur Medio-kratie
Demokratie ist ein Spielfeld f��r Erwartungen. Die Menschen konstituieren sich als B��rger einer Demokratie, indem sie in ihren praktischen Erfahrungen Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung anerkennen. Der Demokratiebegriff hat sich mit der Zeit ver?ndert. In der Antike gab es die Gleichheit des demos und freie B��rger--keine Frauen, keine Sklaven--hatten Stimmrecht. Nach zahlreichen Emanzipationen bezeichnete der Begriff Demokratie schlie?lich die Freiheit der Menschen, ihre Regierung zu w?hlen. Wie diese Selbstverwaltung tats?chlich funktioniert--durch direkte oder indirekte Repr?sentation, in Form von Regierungen, die auf der Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative basieren, oder durch Monarchien--ist eine Frage der jeweiligen pragmatischen Einrichtungen. Die Demokratie der Armut ist eine andere als die Demokratie des Wohlstands. Gleiches Recht auf Arbeit, Bildung, medizinische Versorgung und Kunst und gleiches Recht auf Drogen, Mord, Arbeitslosigkeit, geringen Bildungsstand und Krankheit sind sehr verschiedene Dinge. Eine Stadtratssitzung in Vermont oder in einem Schweizer Kanton, wo das Leben ordentlich und effektiv geregelt ist, unterscheidet sich von einer Staatsregierung in L?ndern, in denen die zentrale Macht jede Form der Selbstverwaltung unterdr��ckt.
Demokratie ist eine unserer wesentlichen sozialen und politischen Erfahrungen. Die Macht der Mehrheit, ermittelt in Wahlen, ist nur eine der m?glichen Ausdrucksformen. Wenn aber nur ein kleiner Teil der Bev?lkerung zur Wahl geht, ist nicht die Mehrheit repr?sentiert. Die demokratische
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