Jenseits der Schriftkultur, vol 4 | Page 8

Mihai Nadin
steht hinter einem Buchstaben,
einer Zahl, einer bestimmten Schreibweise?) ein für allemal verloren.
Eben diese Durchbrechung von Spracherfahrungen gehört zum
allgemeineren Prozeß der Akkulturierung. Schriftforscher haben
verschiedene Ebenen nachgewiesen, auf denen ein jedes
Buchstabenbild Ausdrucksebenen formt, die in sich bedeutsam sind.
Dennoch ist deren alphabetisches Wissen für das Schreiben etwa so
relevant wie eine gute Beschreibung der verschiedensten Radtypen für
die Herstellung und Benutzung von Automobilen.
Heute verwenden wir Bilder nach Maßgabe der Möglichkeiten, die die
Zwänge unserer Lebenspraxis und entsprechender Technologien
bereitstellen. In den vorausgegangenen Kapiteln haben wir einige
dieser Bedingungen ausgeführt. Es waren im einzelnen: 1. die globale
Skala unseres Daseins und unserer Tätigkeit; 2. die Vielfalt, die durch
die aus der Globalität hervorgehenden praktischen Erfahrungen
ermöglicht wird; 3. die Dynamik immer schneller werdender und
zunehmend vermittelter Formen der Interaktion; 4. die Notwendigkeit,
menschliche Interaktion zu optimieren, um höhere Effizienzebenen zu
erreichen; 5. die Notwendigkeit, die latenten Stereotypien der Sprache
zu überwinden; 6. die nicht-lineare, nicht-sequentielle, offene Natur
menschlicher Erfahrungen, die die neue Skala in den Vordergrund
gerückt hat. Die Aufzählung läßt sich fortsetzen. Je besser wir den
Einsatz von Bildern beherrschen, desto mehr Argumente können wir zu
ihren Gunsten vorbringen. Wir sollten diese Argumente jedoch nicht
als unkritische Verherrlichung von Bildern mißverstehen. Vieles läßt
sich nicht allein durch Bilder ausdrücken: theoretische Arbeit etwa oder
metasprachliche Reflexion. Bilder sind faktisch, situationsgebunden,
instabil. Sie vermitteln auch ein falsches Demokratieverständnis. Vor

allem aber veranschaulichen sie die Verlagerung von einem
positivistischen Tatsachenverständnis, wie es den schriftkulturellen
Determinismus bestimmt, zu einer relativistischen Auffassung von
einer chaotischen Funktionsweise, wie sie sich im Markt oder in den
neuen Formen menschlicher Interaktion niederschlägt. Wir müssen ein
besseres Verständnis vom Leistungspotential von Bildern außerhalb
ihrer traditionellen Wirkungsbereiche in Kunst, Architektur und Design
entwickeln, um wirklich ermessen zu können, in welchem Maße sie am
Denken und den bislang eher nicht-bildlichen Formen menschlicher
Praxis teilhaben werden.
Die Bildlogik unterscheidet sich von der Logik, die der menschlichen
Selbstkonstituierung durch Sprache zu eigen ist. Insofern ist sie
besonders in solchen Tätigkeitsbereichen wirkmächtig, die unsere
Gefühle und Instinkte einbinden. Bildlichkeit ist proteischer Natur.
Bilder bilden nicht nur ab; sie formen, gestalten, bilden Gegenstände.
Daher können Assoziationsabläufe besser durch Bilder als durch
Sprache unterstützt werden. Durch Bilder wird der Mensch besser
akkulturiert; d. h. in eine Kultur eingebunden und mit einer Identität
versehen, die er auf der abstrakten Ebene der Kultureinbindung durch
Sprache nicht erfahren kann. Die Welt der Avataren, d. h. die
dynamische graphische Darstellung eines Menschen in der virtuellen
Welt der Netzwerke, ist eine konkrete Welt. Die hierin einbezogenen
Individuen schaffen sich im besten Sinne des Wortes neu als visuelle
Einheiten, die mit anderen einen Dialog aufnehmen.
Innerhalb einer bestimmten Kultur sind die Bilder aufeinander bezogen.
Innerhalb der Vielfalt der Kulturen können Bilder Erfahrungen
übersetzen. Vor dem Hintergrund unserer allgemeinen Globalität ist der
Bildgebrauch zugleich distinktiv und integrativ. Die
Distinktionsleistung äußert sich darin, daß sie die
Identifikationsmerkmale der jeweils kulturgebundenen Individuen trägt,
die sich in den neuen lebenspraktischen Zusammenhängen
konstituieren. Die Integrationsleistung wird am besten durch die
Metapher des global village veranschaulicht, jener kleinen großen Welt
aus Telekommunikation und den Interaktionen im Internet und im
World Wide Web.

Wir sollten die bislang erörterten Eigenschaften von Bildern nunmehr
in Beziehung zu jenen veränderten Perspektiven setzen, die die
Bildtechnologien eröffnet haben. Nur so werden wir verstehen,
inwiefern Bilder Sprachen hervorbringen können, die unsere
traditionelle Schriftkultur überflüssig machen oder, besser noch, die sie
ergänzende partielle Alphabetismen erfordern.
Das mechanische und das elektronische Auge
Der Photoapparat und die dazugehörige Technologie der
Photoentwicklung und -verarbeitung sind Produkte der Schriftkultur,
antizipieren aber einen Zustand jenseits derselben. Die Metapher des
Auges für die Optik der Linse und die Mechanik des Apparats mußte
für den neuen Blick auf die Wirklichkeit auf Kategorien der
Schriftkultur zurückgreifen, insbesondere auf deren implizite
Raumauffassung und Raumdarstellung. Die genaue Diskussion um
Möglichkeiten und Grenzen der Photographie, die mit den ersten
Photos einsetzte und bis in unsere heutige Zeit anhält, ist eine einzige
Übung im analytischen Denken und Handeln.
Manche haben die Photographie als ein Beschreiben mit Licht
verstanden, andere als mechanisches Zeichnen. Die kreativen
Möglichkeiten schienen eher begrenzt, die dokumentarischen standen
außer Frage: Sie bot eine Art Kurzschrift für Beschreibungen, die in
schriftlicher Form schwierig, aber prinzipiell möglich waren. Je mehr
die Möglichkeiten und Verwendungsbereiche der Kamera erweitert
wurden, desto interessanter wurde die Photographie als Beleg und
Dokument in Journalismus und Wissenschaft, im persönlichen und
familiären Leben. Allmählich traten Bilder an die Stelle von Wörtern,
und schließlich mußten Schrift und Schriftkultur eine ganze Reihe von
Erfahrungsbereichen, die mit Raum, Bewegung und ohne Kamera nicht
erkennbaren Aspekten zu tun hatten, der Bildlichkeit als
Darstellungsmedium überlassen.
Das Unsichtbare wurde plötzlich mit Hilfe der Kamera viel
überzeugender, anschaulicher und authentischer vorgeführt, als Worte
darüber hätten berichten können. Das in vielen Geschichten erwähnte,
aber im wahren Wortsinn unsichtbare Abwassersystem von Paris mag

hier als Beispiel dienen. Vor der Photographie konnte
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