Jenseits der Schriftkultur, vol 4 | Page 7

Mihai Nadin
Erfahrungen ergeben
sich aus der praktischen Notwendigkeit, den menschlichen
Erfahrungshorizont zu erweitern und mit der Dynamik der globalen
Wirtschaft Schritt zu halten.
Wie viele Worte in einem Blick?
In einer Zeitschrift der Druckindustrie (Printer’s Ink) hat Fred R.
Barnard 1921 eine Formulierung verwendet, die seitdem immer wieder
aufgegriffen wurde: "Ein einziger Blick ist 1000 Worte wert!" Er
formulierte sie später um und behauptete, es sei ein altes chinesisches
Sprichwort: "Ein Bild ist 1000 Worte wert." Er wollte damit auf die
Wirkungskraft von Bildern aufmerksam machen, auf die im übrigen
Gestalter und Handwerker aller Art in jahrtausendealter Praxis schon
immer gesetzt hatten.
Bilder sind konkreter als Wörter. In ihrer Konkretheit vermögen sie
natürlich nicht, andere Bilder zu beschreiben. Dennoch assoziieren wir
mit den abstrakten Begriffen, die der Mensch im Verlauf seiner
praktischen und theoretischen Tätigkeit entwickelt hat, immer wieder
Bilder. Sie sind auch in ihrer Verwendbarkeit eingeschränkter und viel
stärker durch ihren Entstehungszusammenhang bestimmt. Das Wort rot

ist im Vergleich zur Farbe, die es bezeichnet, willkürlich. Auch hat die
Bezeichnung selbst nur einen Annäherungswert. In einem bestimmten
experimentellen Zusammenhang kann man viele Farbnuancierungen
unterscheiden, für die es keine eigenen Bezeichnungen gibt. Die Farbe
in einem gegebenen Bild hingegen ist eine meßbare physikalische
Größe, die man in der Photographie, im Druck oder der
Pigmentsynthese entsprechend leicht verarbeiten kann. Im gleichen
experimentellen Zusammenhang kann diese Farbe mit vielen
Gegenständen und Abläufen assoziiert werden: mit Blumen, Blut,
einem Stop-Schild, einem Sonnenuntergang oder einer Fahne. Sie kann
Vergleiche oder Assoziationen bewirken oder selbst zur
konventionalisierten Bedeutung werden. Wird ein visuelles Zeichen in
Sprache übersetzt, wird es mit derartigen für die Sprache typischen
Konventionen beladen--Rot als Farbe der Revolution, das Rot der
Kardinäle, der Rotgardisten usw.--und damit aus dem Bereich der
physikalischen Bestimmtheit (Wellenlänge oder Oszillationsfrequenz)
in den Bereich kultureller Konventionen verlagert. Diese Konventionen
gehören zum Symbolinventar einer bestimmten Gemeinschaft.
Rein bildliche Zeichen wie im Chinesischen und im Japanischen
beziehen sich auf die Sprachstruktur und tragen kulturelle Bedeutung.
Unabhängig davon, zu welchen Abstraktheits- und
Kompliziertheitsgrad sie sich entwickelt haben, behalten sie doch einen
Bezug zu dem, was sie bezeichnen. Sie weiten die Erfahrung des
Schreibens--besonders in kalligraphischen Übungen--auf die darin
ausgedrückte Erfahrung aus. Wir können die in der Sprache verkörperte
Logik durchaus auf Bilder übertragen, und das nicht nur bei den
chinesischen Ideogrammen. Doch verändern wir damit automatisch den
Status des Bildes; es wird eine Illustration.
Die in der Schriftkultur verkörperte Sprache ist ein analytisches
Instrument, das die analytische Tätigkeit des Menschen fördert. Bilder
haben vornehmlich synthetische Eigenschaften und eignen sich
besonders für Komposita. Synthetisierende Tätigkeiten, besonders der
Entwurf von Gegenständen, Mitteilungen oder Handlungsabläufen,
greifen auf Bilder zurück, besonders auf aussagekräftige Diagramme
und Zeichnungen. Schrift beschreibt, Bilder bilden heraus. Sprache

setzt für das Verstehen einen Kontext voraus, in dem
Distributionsklassen definiert werden. Bilder deuten einen solchen
Kontext an. Ein Bild kennt aufgrund seines individuellen Charakters
keine Entsprechung für eine Distributionsklasse.
Beim Betrachten eines Bildes, zu welchem praktischen oder
theoretischen Zweck auch immer, beziehen wir uns stets auf die
Methode des Bildes, nicht auf seine Bestandteile. Die Methode eines
Bildes ist seine Erfahrung, nicht eine auf ein bestimmtes Repertoire
angewandte Grammatik oder die Umsetzung bestimmter
grammatikalischer Regeln. Die Kraft der Sprache liegt in ihrer
abstrakten Natur. Bilder beziehen ihre Wirkungskraft gerade aus ihrer
Konkretheit. Die Abstraktheit der Sprache ergibt sich daraus, daß eine
Sprachgemeinschaft ein bestimmtes Vokabular und eine Grammatik
gemeinsam hat; die Abstraktheit von Bildern bedeutet, daß Menschen
eine gemeinsame visuelle Erfahrung teilen oder daß die Bilder einen
Kontext für neue Erfahrungen schaffen.
Solange die visuelle Erfahrung wie bei den nomadischen Stämmen auf
die eigene, begrenzte Welt beschränkt blieb, konnten visuelle Zeichen
nicht als Medium für eine Erfahrung dienen, die über diese sich
verändernde Welt hinaus wies. Die Sprache entwickelte sich ja gerade
aus dem Bedürfnis heraus, diese Grenzen von Raum und Zeit zu
überwinden und Optionen zu schaffen. Das abstrakte phonetische
Zeichen bot sich als Alternative, es konnte leichter von einer Welt in
die andere überführt werden, wie es die Phönizier ja auch praktizierten.
Jedes Alphabet ist ein kondensiertes visuelles Zeugnis von Erfahrungen,
die sich inzwischen von der Sprache und deren konkreter praktischer
Motivierung losgelöst haben.
Schrift visualisiert Sprache; die Lektüre gibt der geschriebenen Sprache
ihre mündliche Dimension zurück, wenn auch in gezähmter Form. Die
Buchstaben der verschiedenen Alphabete sind nicht einfache, neutrale
Zeichen für eine abstrakte phonetische Sprache, sondern vielmehr die
Zusammenfassung visueller Erfahrungen und die Kodierung von
Regeln des Wiedererkennens; sie haben einen Bezug zu
anthropologischer Erfahrung und zu kognitiven

Abstrahierungsprozessen. Der Mystizismus von Zahlen und deren
meta-physische Bedeutung, der Mystizismus von Buchstaben oder
Buchstaben- und Zahlenverknüpfungen, von Formen, Symmetrien und
Ähnlichem gehören dazu. Mit der Alphabetisierung und der Einführung
von Zahlensystemen nahm die abstrakte Natur der visuellen
Darstellung die phonetische Eigenschaft der Sprache an. Für den
durchschnittlich gebildeten (oder ungebildeten) Menschen ging die
Konkretheit der bildlichen Darstellung zusammen mit den darin
gefaßten Elementen (welche Erfahrung
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