Jenseits der Schriftkultur, vol 4 | Page 9

Mihai Nadin
nur die
Zeichnung das Sichtbare ohne Umsetzung in Worte oder komplizierte
Diagramme wiedergeben. Aber jede Zeichnung war schon immer
interpretierte Darstellung, nicht nur dadurch, daß sie auswählte,
sondern eine Perspektive wählen mußte und das Dargestellte emotional
anreicherte. Es brauchte lange, bis auch die Kamera eine derartige
interpretierende Eigenschaft aufzuweisen hatte, und auch dann war es
wegen der zwischengeschalteten Verarbeitungstechnologie nicht leicht
zu sagen, was dem abgebildeten Gegenstand hinzugefügt worden und
aus welchen Gründen dies geschehen war.
Heutzutage haben alle Photoapparate das notwendige
Bedienungswissen eingebaut. Die Metapher des Auges, die sich
ohnehin mit dem Aufkommen der elektronischen Photographie
verändert hat, hat sich ebenso erübrigt wie jedwede Beachtung von
Blende, Belichtungszeit und Entfernung. Die Lebenspraxis, die zur
Photographie hinführte, hat mit der heutigen Praxis der
vollautomatischen Kamera nur noch wenig gemein. Das alltägliche
Photographieren setzt keinerlei spezielle Kenntnisse mehr voraus,
sondern begleitet Reisen, gesellige Veranstaltungen oder auch sehr
persönliche Situationen gewissermaßen als Alltagsreflex. So ersetzen
Photographien heute schriftliche Berichte, und Photoalben ersetzen
Tagebücher, zumal ein Photoapparat, so merkwürdig das klingen mag,
leichter zu benutzen und vermutlich genauer ist als die Sprache. In
gewisser Hinsicht ist er eine komprimierte Sprache, die uns auf das
kommende Zeitalter einer visuellen Syntax vorbereitet. Wenn die
wissenschaftliche Photographie nicht zur Verfügung stünde, müßten
wir für das, was uns die Bilder aus dem Weltraum, vom
Elektronenmikroskop, aus dem Erdinneren oder aus den Tiefen des
Meeres mitteilen, ungeheure, kaum verfügbare sprachliche Mittel
aufwenden. Zur Zeit Leonardo da Vincis gab es nur die eine
Alternative, die der Zeichnung--neben einer ausgreifenden Phantasie.
Die Photokamera hat--expliziter noch als die Sprache--eine eingebaute
Raumvorstellung. Sie ist in der Geometrie der Linse angelegt und
drückt sich in den charakteristischen Merkmalen der Photographie aus:
zweidimensionale Reduktion unserer dreidimensionalen

Erfahrungswelt, die im wesentlichen durch die physikalischen
Eigenschaften der Linse, aber daneben durch Licht, Filmqualität,
Entwicklungsart, Photopapier und verwendete Technik beeinflußt wird.
Mit der Differenzierung unserer räumlichen Vorstellungen haben wir
auch die Objektive verbessern (Weitwinkel, Zoom) und Funktionen
entwickeln können, die unseren visuellen Erfahrungen entsprechen. Mit
der Möglichkeit, die Zeit zu kontrollieren, konnten schließlich auch
dynamische Vorgänge aufgezeichnet werden.
Eine neue Phase im Verhältnis zwischen Schriftkultur und
Photographie wurde durch die Polaroid-Kamera eingeleitet, die die
ursprünglichen zwei Stadien des Photographierens zusammenfaßte, das
Ergebnis sofort ausdruckte und--zumindest anfänglich--auf
Reproduzierbarkeit verzichtete. Die traditionelle Kameratechnik wies
ein Verhältnis zwischen Mensch und Instrument auf, das auch das
Verhältnis zur Maschine kennzeichnete: Was kann ich damit machen?
Mit der Polaroid-Kamera veränderte sich die Frage: Was kann sie für
mich leisten? Die Akzentverlagerung drückt ein verändertes Verhältnis
zum Medium aus und befreit die Photographie zugleich aus einigen von
der Schriftkultur auferlegten Beschränkungen. Die Frage "Was kann
ich tun?" zielt auf photographisches Wissen, auf die vom Photographen
getroffene Auswahl, also auf Identitätserfahrung in einem neuen
lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang. "Was kann sie leisten?"
bezieht sich auf die im Gerät eingebauten Fähigkeiten. Die Werbung
für diese Art von Kamera ist vielsagend: "Sie bekommen Ihr Photo,
solange die Erinnerung frisch ist." Im Gegensatz zur schriftlichen
Aufzeichnung ist das Sofortbild nur auf kurze Dauer angelegt, als ein
Schnellersatz für die Schrift.
Eine noch wichtigere Veränderung bringt die elektronische und
besonders die digitale Kamera. In der Digitaltechnik wirkt sich die
geringste Veränderung des Input nachhaltig auf das Ergebnis aus, und
die Qualität ist deutlich besser. Der Unterschied ist sehr wichtig: Er
kennzeichnet völlig neue Bildbedingungen und verändert unser
Verhältnis zum Visuellen nachhaltig. Die Sprache fand in der Schrift
das angemessene Medium, die Drucktechnik machte das geschriebene
Wort zum Gegenstand der Schriftkultur. Bilder konnten nicht mit

derselben Leichtigkeit angefertigt und auch nicht mit den Mitteln
übertragen werden, die für die Übertragung der Stimme zur Verfügung
standen. Als wir elektromagnetische Wellen--mit einer
Geschwindigkeit mehrfach so hoch wie die Klanggeschwindigkeit--zur
Telefon- oder Radioübertragung nutzten, haben wir damit die Funktion
der Sprache gefestigt, sie aber gleichzeitig von einigen Beschränkungen
der Schriftlichkeit befreit. Die digitale Photographie leistet ein Gleiches
für Bilder.
Die Herstellung eines schriftlichen Berichts über einen Vorgang
irgendwo in der Welt erfordert sehr viel mehr Zeit als die Anfertigung
eines Bildes von eben diesem Vorgang. Ein Photojournalist kann die
Bilder, die er mit seiner digitalen Kamera aufgenommen hat, per
Netzwerk auf die druckfertige Seite senden. Das Verstehen eines Bildes,
dessen Drucklegung übrigens schon lange vor der Erfindung des
Computers eine digitale Komponente benötigte (das Raster), erfordert
einen weitaus geringeren sozialen Aufwand als die Schriftlichkeit. Die
Komplexität verlagert sich von der Aufnahme des Bildes zu dessen
Übermittlung und Empfang. In den entsprechenden neuen
Photogeschäften kann jeder farbenprächtige Drucke oder die
glänzenden CDROMs bekommen, von denen jedes einzelne Bild auf
den Fernsehmonitor geholt oder auf unseren Computern
weiterverarbeitet werden kann.
Zwischen der Verwendung des Bildes als Zeugenbeleg und seiner
Verwendung als Prätext für neue praktische Anwendungen--ein
Medium von visueller Relativität und von fragwürdiger Moral--ist alles
nur Denkbare möglich. Bilder können in sich schnell entwickelnden
Situationen--Transaktionen, Informationsaustausch, Konflikten--besser
als Worte vermitteln. Sie sind frei von den Extralasten, die die
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