Jenseits der Schriftkultur, vol 4 | Page 6

Mihai Nadin
gehört
der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin

Buch IV.

Kapitel 1:
Sprache und Bild
Photo, Film und Fernsehen haben die Welt mehr verändert als
Gutenbergs Druckmaschine. Besonders Film und Fernsehen bekommen
die Schuld für den Niedergang der Schrift- und Lesekultur
zugeschrieben, in jüngerer Zeit kommen Computerspiele und das
Internet als Schuldige dazu. Weltweit hat man in Untersuchungen
herauszufinden versucht, wie diese Medien unsere Lesegewohnheiten,
Schreibfähigkeit, Sprachverwendung und Sprachverstehen beeinflußt

haben. Die Aktionsformen und die Verbreitung von Informationen über
elektronische Medien und das World Wide Web sind ebenfalls unter
vergleichenden Gesichtspunkten untersucht worden. Daraus konnten
Schlußfolgerungen gezogen werden über den Einfluß verschiedener
Schrifttypen auf Art und Umfang der PrintProdukte und auf die
Veränderungen der Schreibweisen (in Romanen, wissenschaftlichen
Texten, in der Geschäftskorrespondenz, in Handbüchern, in Lyrik und
Dramatik, sogar in der persönlichen Korrespondenz).
In einigen Ländern verfügt jeder Haushalt über ein Fernsehgerät, in
manchen über mehr als eines. 1995 wurden mehr Computer als
Fernsehgeräte verkauft. In vielen Ländern haben die meisten Kinder
ausgiebige Fernseh- und Filmerfahrungen, bevor sie lesen können; in
einigen Ländern können sie sogar Computerspiele bedienen, bevor sie
ein Buch in die Hand bekommen. Während der Grundschulzeit
verbringen sie dann mehr Zeit vor dem Fernsehapparat als mit Büchern.
Die Erwachsenen, die heute zur vierten oder fünften Fernsehgeneration
gehören, sind in noch größerem Maße Bildern ausgesetzt. Einiges
davon geschieht in freier Entscheidung--Fernsehsendungen, Kinofilme,
Videokassetten und CD-ROMs. Andere Bilder werden ihnen an ihrem
Arbeitsplatz, beim Arzt, bei der Ausübung ihres Hobbys und durch die
Werbung aufgenötigt. Das Interesse an Fernsehen und Videotechnik
wuchs, als Aufnahme- und Abspieltechnik auch dem Laien leicht
zugänglich wurden. Heute kann für jeden familiären, schulischen oder
beruflichen Anlaß ein umfangreiches Videoarchiv angelegt werden.
Das Kabelfernsehen ermöglicht ohne weiteren größeren Aufwand die
Produktion eigener Fernsehprogramme. Durch die verfügbaren
Netzwerksysteme (Kabel, Satellit, Radiowellen) können Bilder von den
entlegensten Orten an alle Haushalte, Schulen und Bibliotheken
übermittelt werden, was die Beziehung zwischen Eltern und Kindern
und das Verhältnis beider zu Sprache, Bildung und Schriftkultur
beeinflußt. Ohne allzu großen Aufwand kann jeder seine eigene
CD-ROM herstellen; der Zugang zum Internet ist nicht teurer als ein
Zeitschriftenabonnement, aber sehr viel interessanter, weil man nicht
nur passiver Rezipient ist.
Es geht nicht mehr um den Einfluß, den Bild, Verarbeitungstechnologie

und Computer auf Lesegewohnheiten oder den die neuen Medien auf
die Schreibfähigkeit ausüben. Die skizzierte Entwicklung verzeichnet
einen fundamentalen Umbruch--die Abkehr von einem einzigen, alles
beherrschenden Zeichensystem, der Sprache, und von der Schriftkultur
als der verdinglichten Form von Sprache. An ihre Stelle treten
verschiedene Zeichensysteme, unter denen die visuellen eine führende
Rolle einnehmen. Wenn wir diesen Umbruch nur als einen verstärkten
Einfluß der Technologie verstehen, dann verkennen wir die wahre
Natur dieses Umbruchs und der Folgen, die er nach sich zieht; und wir
können uns nicht angemessen darauf einstellen. Wir müssen vor allem
den Grad der Notwendigkeit dieser Technologie erkennen. Die die
Pragmatik der Industriegesellschaft kennzeichnende Obsession mit
Symptomen ist nicht beschränkt auf Reparaturwerkstätten und
Arztpraxen.
Die neuen durch die veränderte Skala des Menschen eröffneten
praktischen Erfahrungen, die die Alternativen zur Sprache notwendig
gemacht haben, bestätigen uns, daß wir uns nicht einfach nur intensiver
mit Fernsehen oder Computerbildschirmen, mit Werbung,
Photographie oder Laserdisketten, CD-ROM, digitalem Fernsehen,
dem Internet oder dem World Wide Web beschäftigen sollten; worum
es wirklich geht, ist die Frage, wie wir lernen können, mit der neuen
Komplexität umzugehen, wie wir sie in den Griff bekommen, um
unsere Bedürfnisse und auf Globalität gerichteten Erwartungen
effizienter zu erfüllen.
Wer den Niedergang der Schriftkultur auf das Fernsehen oder auf das
Eindringen von elektronischen und digitalen Geräten in unser Leben
zurückführt, macht es sich entschieden zu leicht. Es ist natürlich
einfacher, die Stunden zu zählen, die ein Kind durchschnittlich vor dem
Fernsehgerät verbringt--in den USA sind es bis zum Schulabschluß
16000 Stunden im Vergleich zu den 13000 Stunden, die für das Lesen
aufgebracht werden--, als nach den Gründen dafür zu fragen. Wir
wissen alle, daß ein Kind in Amerika heute, bevor es je Alkohol oder
Zigaretten kaufen darf, über eine Million Werbesendungen dazu
gesehen hat. Dennoch kommt kaum jemand auf den Gedanken, die
neuen Arbeits- und Kommunikationsstrukturen wahrzunehmen, egal

wie oberflächlich einige davon auch immer sein mögen. Es ist noch
relativ leicht einzusehen, daß bestimmte Arbeits- und
Lebensgewohnheiten verloren gegangen sind. Die Gründe hierfür
erschließen sich uns erst, wenn wir uns den notwendigen
Entwicklungen gegenüber offen zeigen und sie aus einer gänzlich
neuen Perspektive betrachten.
Einige der heute geläufigen visuellen Zeichensysteme haben sich aus
der Schriftkultur heraus entwickelt: Werbung, Theater und Fernsehspiel.
An sie stellen wir die für das Maschinenzeitalter charakteristischen
Erwartungen. Andere visuelle Zeichensysteme überschreiten die der
Schriftkultur gesetzten Grenzen: konkrete Poesie, Happening,
Animation, Performancespiele bis hin zum interaktiven Videospiel,
interaktive Multimedien, virtuelle Realitäten und die globalen
Netzwerke. In diesen Aktivitäten liegt eine eigene, ganz neue Dynamik,
an Stelle der traditionellen Homogenität werden das Anderssein,
Unterschiede und Auswahl betont. Viele dieser
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