Jenseits der Schriftkultur, vol 2 | Page 8

Mihai Nadin
drückten auf unmittelbare Weise
Dauer, Nähe und Intervalle aus, lange bevor sich die heutigen
Vorstellungen von Raum und Zeit herausgebildet haben. Mithilfe
solcher Unterscheidungen durch Zeichen konnte Abwesendes oder
Bevorstehendes angedeutet bzw. die Dynamik sich wiederholender
Vorgänge ausgedrückt werden. Nach diesen frühen Formen des
Selbstausdrucks erst konnte die Darstellungsfunktion von Zeichen
entwickelt werden: ein hoher Schrei, der nicht nur Schmerz ausdrückte,
sondern vor einer Gefahr warnte, die Schmerz bewirken konnte; ein
erhobener Arm, der über die Bekundung von Präsenz hinaus
Aufmerksamkeit forderte; Farbe auf der Haut nicht nur als Ausdruck
der Freude an einer Frucht oder Pflanze, sondern als Ankündigung und
Antizipation bevorstehender ähnlicher Freuden--kurz, Anweisungen, ja
sogar Instruktionen, die man befolgen, lernen und nachahmen konnte.
Als Teil des auf diese Weise zum Ausdruck Gebrachten entwarfen die
Individuen in der Verwendung des Ausdrucks nicht nur sich selbst,
sondern auch ihre auf diese begrenzte Welt bezogene Erfahrung.
Zeichen, die Bezüge zu Ereignissen herstellten (Wolken zu Regen,
Hufschlag zu Tieren, Blasen auf der Wasseroberfläche für Fische),
stellten nicht nur diese Ereignisse dar, sondern drückten gleichzeitig die
mit anderen gemeinsame Erfahrung in der Lebenswelt aus.
Erfahrungsaustausch über das Hier und Jetzt hinaus, also der Übergang
von direkter und unmittelbarer zu indirekter und vermittelter
Interaktion, bezeichnet den nächsten kognitiven Entwicklungsschritt.
Er konnte vollzogen werden, als gemeinsam verwendete Zeichen auf
eine allen gemeinsame Erfahrung bezogen wurden und sich daraus
Regeln ergaben, nach denen neue Zeichen für neue Erfahrungen
erzeugt werden konnten. Jedes Zeichen ist ein biologisches Zeugnis
über seinen eigenen Entstehungsprozeß und über die Skala der

menschlichen Erfahrung. Das Flüstern erreicht einen, vielleicht zwei
Zuhörer, die nahe beieinander stehen. Ein Schrei entspricht einer
anderen Skala. Insofern birgt jedes Zeichen seine eigene Geschichte in
Kurzform und vollzieht den Brückenschlag vom Natur- zum
Kulturzustand des Menschen.
Abfolgen, etwa die Aufeinanderfolge von Lauten oder sprachlichen
Äußerungen, oder Zeichenverknüpfungen wie in Bildern lassen eine
höhere Stufe der kognitiven Entwicklung erkennen. Die Beziehungen
zwischen solchen Abfolgen oder Verknüpfungen und der sie
hervorbringenden praktischen Erfahrung sind nicht mehr intuitiver Art.
Aus dem Verständnis solcher Zeichenbeziehungen praktische Regeln
abzuleiten, gehörte zu den wesentlichen Interaktionserfahrungen der
Benutzer solcher Zeichensysteme. An einem späteren
Entwicklungspunkt ist die unmittelbare Erfahrungskomponente nur
noch indirekt in der Sprache gegenwärtig. Sprache ist nachgerade das
Ergebnis dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Zeichen zu den
Beziehungen zwischen Zeichen. In ihrer primitivsten Form war
Grammatik nicht ein System von Regeln über die Zusammensetzung
von Zeichen (Syntax) oder darüber, wie Zeichen etwas bezeichnen
(Semantik), sondern darüber, wie bestimmte Umstände neue Zeichen
entstehen ließen, die ihre Erfahrungsqualität beibehielten--also
Pragmatik.
Sprache entwickelte sich folglich als eine Vermittlungsinstanz
zwischen stabilisierter Erfahrung (Wiederholungsmuster in Arbeits-
und Interaktionsabläufen) und Zukunft (durchbrochene Muster). Die
Zeichen bewahrten zunächst die Konkretheit des Anlasses, der sie
hervorbrachte. Mit zunehmender Sprachbenutzung jedoch wurde die
unmittelbare individuelle Projektion aufgegeben. Der
Verallgemeinerungsgrad der Sprache insgesamt wurde viel größer als
derjenige ihrer einzelnen Komponenten (der einzelnen Zeichen) oder
irgendwelcher anderer Zeichen. Doch selbst auf dieser allgemeinen
Ebene der Sprache behielt das Zeichensystem seine charakteristische
pragmatische Funktion bei: nämlich die Herausbildung praktischer
Erfahrungen, nicht die Bereitstellung von Mitteln für die gemeinsame
Kategorisierung von Erfahrungen. In jedem Zeichen und mehr noch in

jeder Sprache treffen biologische und artifizielle Aspekte aufeinander.
Dominiert das biologische Element, vollziehen sich
Zeichenerfahrungen als Reaktionen. Dominiert das kulturelle Element,
wird die Zeichen- oder Spracherfahrung zu einer Form der
Interpretation, also zu einer Fortsetzung der semiotischen Erfahrung.
Jegliche Interpretation entspricht dem unabschließbaren Prozeß der
ausdifferenzierenden Abtrennung vom Biologischen und ist
gleichbedeutend mit der Herausbildung von Kultur. Unter dem Begriff
der Kultur verstehen wir die Natur des Menschen und ihre
Objektivierung in Erzeugnissen, Organisationsformen, Gedanken,
Haltungen, Werten und Kunstwerken.
Die praktische Erfahrung der Zeichenbildung--von der Verwendung
von Zweigen, Felsbrocken und Pelzen bis zu den ersten primitiven
Gravierungen (auf Stein, Knochen und Holz), von Lauten und Gesten
bis zur Sprachartikulation--trug zu Veränderungen des Lebensalltags
bei (Jagd, Schutzsuche, gemeinschaftliche Verrichtungen) und damit
letztlich zur Veränderung des Menschen. In einer von inhaltsschweren
Details gekennzeichneten Welt, in der die Menschen ihre Identität
durch Kampf um Lebensressourcen und in der kreativen Suche nach
besseren Alternativen fanden, veränderte sich zwar nicht die verfügbare
Information, aber die lebenspraktischen Implikationen der Details
traten zunehmend ins Bewußtsein. Die Aneignung von Wissen vollzog
sich durch dessen Anwendung in der Arbeit; jede daraus abgeleitete
Erfahrung eröffnete neue Interaktionsmuster.
Zeichen ermöglichten die kollektive Teilhabe an der Erfahrung. Die
genetische Übermittlung von Wissen lief relativ langsam ab. Sie
beherrschte die Anfangsstadien der menschlichen Entwicklung, als der
Mensch den Mustern seiner natürlichen Umgebung seine eigenen
Handlungsmuster einprägte. Die semiotische, insbesondere die
sprachliche, Wissensvermittlung verläuft schneller, kann indes die
Vererbung nicht ersetzen. Wir können die Spuren des menschlichen
Lebens etwa 2,5 Millionen Jahre zurückverfolgen, die der
Sprachanfänge etwa 200000 Jahre. Formen der Landwirtschaft als
etablierte Erfahrung und Lebensform entwickelten sich vor etwa 19000,
Schriftformen vor etwa 5000 Jahren (nach Schätzung einiger Gelehrter

vor etwa 10000 Jahren). Den immer kürzeren Zyklen der
Menschheitsentwicklung entspricht dabei
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