Jenseits der Schriftkultur, vol 2 | Page 7

Mihai Nadin
von
Schriftsystemen lassen nachvollziehen, wie sich lautliche und gestische
Muster zu graphischen Darstellungen entwickelt haben, und zugleich
auch, wie mit dem Entstehen der Schrift neue Erfahrungshorizonte und
eine breitere Skala menschlicher Tätigkeit erschlossen wurden.
Entsprechende Rückschlüsse können wir auch aus aussterbenden
Sprachen ziehen, die weniger wegen ihrer Grammatik oder Phonetik
interessant sind als wegen des erkennbaren Zusammenhangs, der
zwischen ihnen und einer entsprechenden Erfahrungswelt, einer
zugrundeliegenden biologischen Struktur und der Skala der
menschlichen Erfahrungen und ihrer Veränderungen besteht.
Der hier getroffenen Unterscheidung zwischen vorsprachlicher
Notation, Sprachentstehung, Entstehung von Schriftsystemen und
aussterbenden Sprachen entspricht ein Unterschied zwischen Arten und
Typen menschlicher Ausdrucksweise, Interaktion und Interpretation
von allem, was die Menschen zur Anerkennung der sie umgebenden
Wirklichkeit heranziehen. Auf sich oder andere aufmerksam zu machen
erfordert noch keine Sprache. Hierfür reichen Laute, Gesten können das
Signal verstärken. In jedem artikulierten Laut und in jeder Geste
projiziert sich der Mensch auf irgendeine Weise. In Höhe, Timbre,
Umfang und Dauer eines Lautes bleibt Individualität bewahrt; Gesten

können langsam oder schnell, zögernd oder aggressiv oder in einer
Mischung von alldem ausgeführt werden. Wird aber ein bestimmter
Laut oder eine Lautfolge bzw. eine bestimmte Geste oder Gestenfolge
auf die Bezeichnung eines bestimmten Gegenstandes festgelegt, so
wird aus diesem stabilisierten Ausdruck das, was wir im Nachhinein
ein Zeichen nennen.
Wiedersehen mit semeion
Das Interesse an menschlichen Zeichensystemen reicht bis weit in die
Antike zurück. Doch heute verzeichnen wir ein verstärktes Interesse an
Fragen der Semiotik, jener Disziplin, die sich mit Zeichen (griechisch
semeion) beschäftigt. Der Grund hierfür liegt in der rasanten Zunahme
von Ausdrucks- und Kommunikationsformen, die nicht mehr auf die
Mittel der natürlichen Sprache zurückgreifen. Auch die Interaktion
zwischen Menschen und immer komplexer werdenden Maschinen hat
semiotische Fragen ganz neuer Art aufgeworfen.
Die Sprache--in mündlicher und schriftlicher Form--ist wohl das
komplexeste Zeichensystem, das wir kennen. Das Wort Sprache
bezieht sich zwar auch auf andere Zeichensysteme, stellt aber
keineswegs eine Synthese aller dieser Zeichensysteme dar. Den
Entwicklungsprozeß der Sprachlichkeit können wir als eine
fortschreitende Projektion des Individuums auf seine Lebensumwelt
verstehen. Das Zeichen Ich als Bezeichnung der eigenen
Individualität--die sich von anderen Ichs unterscheidet, mit denen man
kooperiert, konkurriert oder kämpft--können wir wahrscheinlich als
erstes Zeichen voraussetzen. Es bestand zusammen mit dem Zeichen
für das andere; denn Ich kann nur in Relation zu dem anderen definiert
werden. In einer als das andere erfahrenen Welt zeichneten sich
Einheiten ab, die entweder gefährlich und bedrohlich, hilfreich oder
kooperativ waren. Solche qualifizierenden Eigenschaften konnte man
nicht einfach zum Identifikationsmerkmal machen. Sie stellten
Projektionen des Subjekts dar, das seine Umwelt erkannte,
interpretierte oder fehldeutete.
Um meine These von der pragmatischen Natur von Sprache und
Schriftlichkeit zu belegen, muß ich mich noch etwas näher mit dem

vorsprachlichen Stadium befassen. Mein Interesse beschränkt sich
dabei auf die Natur der Sprache, was indes ihre Entstehung und die
Bedingungen dafür mit einschließt. Auf das, was wir gemeinhin als
Werkzeug bezeichnen, und auf rudimentäre Verhaltenskodes (in Bezug
auf Sexualität, Schutzbedürfnis und Nahrungssuche) habe ich bereits
hingewiesen. Es gibt für dieses Stadium genügend historisch
gesichertes Material und eine ganze Reihe bekannter Tatsachen
(Klimawechsel, das Aussterben von Tieren und Planzen), die sich auf
dieses Stadium ausgewirkt haben. Schlußfolgerungen aus
Lebensformen, die denen ähneln, die wir für die frühen menschlichen
Lebensformen halten, ergänzen unser Wissen darüber, wie sich Zeichen
als Ausdruck einer Identität herausgebildet haben. Diese Zeichen bilden
eine Objektwelt ab und drücken daneben eine Bewußtheit von einer
Welt aus, die durch die biologische Veranlagung des Menschen
ermöglicht wurde.
Allgemein wird Sprechen verstanden als Erklärung von Gedanken
mittels Zeichen, die für diesen Zweck entwickelt wurden. Gleichzeitig
wird das Denken als seiner Natur nach von Wörtern und Zeichen
unabhängig verstanden. Meiner Meinung nach ist der Übergang vom
Natur- zum Kulturzustand, d. h. von Reaktionen auf natürliche Reize zu
Reflexion und Bewußtheit, durch Kontinuität und Diskontinuität
gleichermaßen gekennzeichnet. Die Kontinuität liegt in der
biologischen Struktur, die in den Interaktionsraum des Menschen mit
ähnlichen oder unähnlichen Einheiten übertragen wurde. Die
Diskontinuität ergibt sich aus Veränderungen in der Gehirngröße, des
aufrechten Gangs und der Funktion der Hände. Das vorsprachliche
(prädiskursive) Stadium ist seiner Natur nach unmittelbar. Das
diskursive Stadium, das den manifesten Gedanken ermöglicht, ist durch
Sprachzeichen vermittelt.
Die Zeichen, mit denen die Menschen des vorsprachlichen
Entwicklungsstadiums ihre Wirklichkeit in ihren Existenzrahmen
übertrugen, drückten durch die ihnen eigene Energie und Plastizität das
aus, was die Menschen damals waren. Sie brachten vor allem das zum
Ausdruck, was im anderen--in anderen Gegenständen oder anderen
Lebewesen--als gleich erfahren wurde, und Gleichheit war allen

Zeichen gemein. Direkte Interaktion und Unmittelbarkeit, Aktion und
Reaktion waren vorherrschend. Das Unerwartete oder Verzögerte war
das Unbekannte, Mysteriöse. Die Skala des menschlichen Lebens war
klein. Jedes Geschehen, jeder Vollzug bestand aus wenigen Schritten
und war von begrenzter Dauer. Zeichen der Gegenwärtigkeit, einer
allen gemeinsamen Raum- und Zeiterfahrung, wurden zum Ausdruck
der Interaktion. Zeichen bezogen sich auf das Hier und Jetzt des
gemeinsam erfahrenen Lebens und
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