Jenseits der Schriftkultur, vol 2 | Page 6

Mihai Nadin
gehört
der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin
BUCH II.

Kapitel 1:
Von den Zeichen zur Sprache
Sprachen sind, ebenso wie die jeweiligen Schriftkulturen und die auf
ihnen gründende Bildung, untereinander sehr verschieden. Die
Unterschiede gehen weit über Wortklang, Alphabet, Buchstabenfolge
und Satzstrukturen hinaus. Manche Sprachen weisen nuancierte
Unterscheidungen für Farben, Formen, Geschlechtsbezeichnungen,
Mengenbezeichnungen und Naturphänomene auf, während allgemeine
Aussagen nur schwer in ihnen zu formulieren sind. Wir wissen aus der
Anthropologie, daß eine Sprache die jeweilige Lebenswelt ihres
eigenen Sprachraums lexikalisch differenzierter widerspiegelt als

andere Sprachen. Die verschiedenen Bezeichnungen für Schnee in
Eskimosprachen oder für Kamel im Arabischen sind geläufige
Beispiele. Sprachen kategorisieren die Wirklichkeit. Und eine Sprache
erscheint umso fremder, je fremder dem Betrachter die in ihr erfaßte
Wirklichkeit ist. So führt auch die Beherrschung der chinesischen
Sprache (d. h. in ihr gebildet zu sein), zu etwas anderem als die
Beherrschung etwa des Englischen oder eines afrikanischen
Stammesdialekts. Schon diese Beispiele zeigen, daß die praktische
Erfahrung, durch die eine Sprache hervorgebracht wird, Teil des
allgemeinen pragmatischen Handlungsraums des Menschen ist.
Eine abstrakte Sprache gibt es nicht. Doch trotz der zum Teil
erheblichen Unterschiede zwischen den Sprachen ist die
Sprachfähigkeit der gemeinsame Nenner der Spezies homo sapiens und
ein konstitutives Element der Dynamik dieser Spezies. Wir sind unsere
Sprache. Die Feststellung, daß die Sprache dem Leben folgt und es
nachbildet, trifft nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich bildet sich auch
in der Verwendung der Sprache das Leben heraus. Beide beeinflussen
sich gegenseitig, letztlich hängt der Mensch von jenem pragmatischen
Handlungszusammenhang ab, innerhalb dessen er seine biologische
Struktur in den praktischen Akt der Selbstdefinition überträgt.
Die Gründe für Veränderungen im dynamischen Zustand einer Sprache
können wir aus jenen (biologischen, sozialen, kulturellen) Bereichen
erschließen, die Sprache hervorgebracht haben, die Unterschiede in der
Sprachverwendung hervorgerufen und die Anlässe für Veränderungen
der Lebensumstände gegeben haben. Die Notwendigkeit zur
Veränderung und die Kräfte, die die Veränderung tragen, dürfen dabei
nicht verwechselt werden, obwohl die Trennung zwischen ihnen nicht
immer ganz leicht ist. Veränderte Arbeitsgewohnheiten und
Lebensformen sind ebenso wie die Sprache, die sie ausdrückt, an den
pragmatischen Rahmen unserer beständigen Selbstkonstituierung
gebunden. Noch immer verfügen wir über zehn Finger--eine
Strukturgegebenheit des menschlichen Körpers, die sich in das
Dezimalsystem übertragen hat--, aber das binäre Zahlensystem ist heute
vermutlich vorherrschend. Das besagt nichts anderes, als daß neue
Wörter immer dann geprägt werden, wenn die Umstände dies erfordern,

und der Vergessenheit anheimfallen, wenn sie nicht länger benötigt
werden. Oft ermöglichen neue Wörter und neue Ausdrucksformen erst
neue Lebens- und Arbeitsformen; sie bilden dann nicht nur Leben ab,
sondern öffnen ihm mögliche Entwicklungswege.
Die Sprache erlaubt dem Menschen erlernbare und kulturell tradierbare
Organisationsformen, die ihn vom instinktiven Verhalten des Tieres
unterscheiden. Über den Ursprung der Sprache ist damit noch nichts
gesagt, und nichts darüber, warum die instinktive und genetisch
vererbte Organisationsform der Tierwelt für die sprachlich vermittelte
Organisationsform des Menschen weder hinreicht noch dieser
gleichwertig ist. Sprache ist mehr als ein bloßer Archivierungsort, sie
ist ein Mittel zum Entwurf von Wirklichkeit, ein Instrument zur
Hervorbringung neuer Instrumente und deren Evaluierung.
Doch wir müssen Sprache in einem noch allgemeineren Rahmen
betrachten. Sprachen entwickeln sich wie die Menschen, die sie
benutzen. Auch das Aussterben von Sprachen gibt Aufschluß darüber,
wie das Leben einer Sprache an das Leben derer gebunden ist, die sie
entwickelt und erforderlich gemacht und schließlich durch andere
Mittel ersetzt haben. Die anthropologische, archäologische und
genetische Forschung, die sich mit den vorsprachlichen Stadien
menschlichen Lebens befaßt, konzentriert sich auf die Gegenstände, die
man für primitive Verrichtungen verwendete. Aus diesem
Zusammenhang wissen wir recht zuverlässig, daß vor der Entwicklung
relativ stabiler und repetitiver Strukturen die Menschen Laute und
körpersprachliche Formen der Mimik und Gestik einsetzten, und zwar
wohl ziemlich genau so, wie wir es heute von Kleinkindern kennen.
Aus den frühen Stadien der Menschheit ist ein reicher Fundus an
Handlungsmustern und Verhaltenscodes überliefert, die durchaus eine
gewisse Kohäsion aufweisen. Unsere Vorfahren aus grauer Vorzeit
entwickelten bereits für den Zweck der Nahrungsversorgung und als
Reaktion auf Veränderungen in den Lebensbedingungen, die sich auf
die Ernährungs- und Schutzbedürfnisse auswirkten, bestimmte
regelhafte Verhaltensformen.
In vorsprachlicher Zeit fungierten Werkzeuge offenbar auch als

Zeichen und Kommunikationsmittel. Viele Wissenschaftler glauben
allerdings, daß die Erfindung von Werkzeugen ohne Wörter, also vor
der Existenz von Sprache, nicht möglich war. Ihnen zufolge sind die
zur Herstellung von Werkzeugen und die zur Herausbildung des
werkzeugmachenden Menschen (homo faber) erforderlichen kognitiven
Prozesse sprachlicher Natur. Das Werkzeug als Verlängerung des Arms
stelle eine Art von Verallgemeinerung dar, die nur durch Sprache
möglich wurde. Es könnte aber durchaus sein, daß natürliche Formen
der "Notation" (Fußabdrücke, Bißeindrücke und solche Steingebilde,
die manche bereits für Werkzeuge halten) der Sprache vorausgingen.
Solche Notierungen dürfen auch als Extension der biologischen
Gegebenheiten des Menschen gelten und entsprechen einem kognitiven
Entwicklungsstand und einer Existenzskala, die auf die Herausbildung
von Sprache hinführte.
Die vorliegenden Erkenntnisse über die Entstehung
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