Jenseits der Schriftkultur, vol 1 | Page 8

Mihai Nadin
der Sprache erstreckt sich auf die Erfahrung der ihr eigenen
Logik und der von ihr und der Schriftkultur geschaffenen Institutionen.
Diese wiederum beeinflussen rückwirkend unser Dasein--das, was wir
denken, was wir tun und warum wir es tun; so wie auch alle Werkzeuge,
Geräte und Maschinen und alle Menschen, zu denen wir in Beziehung
treten, unser Dasein beeinflussen. Die Interaktion mit anderen
Menschen, mit der Natur oder mit Gegenständen, die wir geschaffen

haben, beeinflussen alle auf ihre Weise die praktische
Selbstkonstituierung unserer Identität.
Die schriftkulturelle Verwendung von Sprache hat unsere kognitiven
Fähigkeiten entscheidend erweitert. Vieles unterliegt dieser
schriftkulturellen Praxis: Tradition, Kultur, Gedanken und Gefühle,
Literatur, die Herausbildung politischer, wissenschaftlicher und
künstlerischer Projekte, Moral und Ethik, Justiz. Ich verwende einen
weiten Begriff von Schriftkultur, der ihre vielen über die Zeit
herausgebildeten Facetten abdecken soll. Wer daran Anstoß nimmt,
sollte sich die enormen Wirkungsbereiche der Schriftlichkeit in unserer
Kultur vor Augen halten. Das Gegenteil dieses Begriffs ist fast immer
mit negativen Konnotationen belastet--nicht schriftkulturell gebildet zu
sein, gilt als schädlich oder peinlich. Wir können also, ohne unsere
Werte und Denkweisen genauer zu verstehen, auch nicht
nachvollziehen, wie sich der Weg in die "Schriftkulturlosigkeit" als
Fortschritt begreifen läßt. Viele Menschen empfinden sich als Teil
einer post-schriftkulturellen Gesellschaft, möchten sich aber nicht als
ungebildet bezeichnen lassen. [Im übrigen ist hier mit Blick auf die
deutsche Ausgabe ein klärendes Wort zur Begrifflichkeit angezeigt. Im
Englischen ist zur Benennung der hier verhandelten Problemstellungen
das Begriffspaar literacy und illiteracy (bzw. literate/illiterate)
gebräuchlich, für das es im Deutschen kein Äquivalent gibt.
literacy/literate kann deutsch "Schriftkultur/schriftkulturell",
"Schriftlichkeit (Schrift)/schriftlich", "Bildung/gebildet", bzw. illiteracy
neben "Unbildung" auch noch "Analphabetismus" bedeuten. Auch
"Literalität/Illiteralität" ist keineswegs deckungsgleich. Je nach Kontext
bezeichnet der englische Begriff einen dieser Aspekte oder den
gesamten Bedeutungsumfang. In der deutschen Fassung mußte daher
aus Gründen der Präzisierung auf Umschreibungen oder
Wortkombinationen zurückgegriffen werden. Ein ähnliches Problem
stellt sich bei der Übersetzung für den englischen Begriff mind, an
dessen Bedeutungsumfang man sich je nach Kontext mit "Bewußtsein"
oder "Geist" annähern kann, der nach Auffassung des Verfassers aber
als deutsch "Mind" wiedergegeben werden sollte. Anm. d. Übers.]
Mit der Bezeichnung Jenseits der Schriftkultur beziehe ich mich auf ein

Entwicklungsstadium, in dem die Grundstruktur unserer Lebenspraxis
nicht mehr vornehmlich durch schriftkulturelle Merkmale
gekennzeichnet ist. Darüber hinaus bezeichne ich damit einen Zustand,
in dem nicht mehr eine einzige Sprache und Schriftkultur vorherrscht
und allen Bereichen der Lebenspraxis ihre Strukturen und Regeln
aufzwingt, so daß neue Formen der Selbstkonstituierung verhindert
werden. Im übrigen geht es mir nicht um einen provokativen Begriff,
sondern darum, daß wir unseren Blick zukunftsorientiert auf die
gegenwärtigen Probleme richten und uns nicht aus Bequemlichkeit mit
dem Gewohnten zufrieden geben.
Das neue Stadium kennt viele Sprachen und Schriftlichkeiten mit
jeweils eigenen Merkmalen und Funktionsregeln. Bei diesen partiellen
Sprachen kann es sich um andere Ausdrucksformen handeln, um
visuelle oder um synästhetische Kommunikationsmittel. Andere
beruhen auf Zahlen und damit einem Notationssystem, das mit
Schriftlichkeit nichts zu tun hat. Jenseits der Schriftkultur etablieren
sich nichtsprachliche Denk- und Arbeitsformen, die z. B. Mathematiker
verschiedener Länder und Sprachen auf der Grundlage ihrer Formeln
zusammenarbeiten lassen. Visuelle, digital verarbeitete Mittel erhöhen
die Effizienz. Und selbst in der heutigen eher primitiven Ausstattung
verkörpert das Internet die Richtungen und Möglichkeiten dieser
Zivilisation. Das bringt uns zurück zur Frage, wie und warum
Schriftkultur entstand, nämlich durch pragmatische Umstände, die nach
höherer Effizienz hinsichtlich der verfolgten Ziele verlangten: bei der
Auflistung von Handelsgütern oder bei Anweisungen für bestimmte
Tätigkeiten; Beschreibungen von Orten und Wegen; Theater, Dichtung,
Philosophie; die Aufzeichnung und Verbreitung von Geschichte und
Ideen, von Mythen, Romanen, Gesetzen und Gebräuchen. Einige dieser
Bedürfnisse haben sich erübrigt. Aber daß die neuen digitalen
Methoden und Technologien eine leistungsfähige Alternative zur
Schriftkultur darstellen, kann nicht deutlich genug hervorgehoben
werden.
Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war ich davon
überzeugt, daß wir für die dem Menschen eigene Tendenz zu immer
höherer Effizienz--genauer: für unseren Drang, immer mehr für immer

weniger Geld zu bekommen--einen Preis bezahlen müssen: die
Aufgabe der Schriftkultur und der an sie geknüpften Werte wie
Tradition, Bücher, Kunst, Familie, Philosophie, Ethik und vieles andere.
Wir sehen uns schnelleren Lebensrhythmen und kürzeren
Interaktionszeiten ausgesetzt. Zahlreiche und vielfältige
Vermittlungselemente beeinflussen unser Verständnis von dem, was
wir tun. Fragmentarisierung und gleichzeitige Vernetzung der Welt,
neue Synchronisierungstechnologien und die Dynamik von
Lebensformen oder künstlich geschaffenen Gebilden entziehen sich
schriftkulturellem Zugriff und konstituieren einen neuen Rahmen für
unsere Lebenspraxis. Besonders deutlich wird das, wenn wir die
grundlegenden Merkmale der Schriftlichkeit mit denen der neuen
Zeichensysteme vergleichen, die die Schriftlichkeit ergänzen oder
ersetzen. Sprache ist sequentiell, zentralistisch, linear und entspricht
dem linearen Wachstumsstadium der Menschheit. Mit den ebenfalls
linear anwachsenden Mitteln des Lebensunterhalts und der Produktion,
die für das Leben und die Fortentwicklung der Menschheit notwendig
sind, hat dieses Stadium sein Potential realisiert und erschöpft. Das
neue Stadium ist gekennzeichnet durch verteilte, nichtsequentielle
Tätigkeit und nichtlineare Beziehungen. Es spiegelt das
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