Jenseits der Schriftkultur, vol 1 | Page 9

Mihai Nadin
exponentielle
Wachstum der Menschheit (hinsichtlich der Bevölkerungszahlen, der
Erwartungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte) und setzt auf andere, im
wesentlichen kognitive Ressourcen. Dieses System weist eine andere,
eine völlig neue Skala auf, die unter anderem durch Globalität und
höhere Komplexitätsebenen gekennzeichnet ist. Aus diesen völlig
neuen Formen der Lebenspraxis erwachsen die Alternativen, die unser
Leben, unsere Arbeit und unsere sozialen Beziehungen verändern
werden.
Die neuen Mittel sind nicht mehr so universell wie die Sprache,
eröffnen aber aus den hier zunächst angedeuteten Gründen ein
exponentielles Wachstum. Solange sich der Mensch in kleinen
Einheiten organisiert hatte (in Stämmen, kleinen
Siedlungsgemeinschaften, Städten und Grafschaften), nahm die
Sprache eine zentrale Stellung ein. Sie erfüllte in diesen
Organisationsformen vereinheitlichende Funktionen. Mittlerweile
haben wir eine Entwicklungsphase erreicht, die von weltweiten

Abhängigkeitsverhältnissen gekennzeichnet ist. Daraus erwachsen viele
lokale Sprachen und Schriftlichkeiten mit nur relativer, begrenzter
Bedeutung, die aber in ihrer Gesamtheit unsere Praxis optimieren. Aus
Bürgern, Citizens, werden vernetzte Bürger, Netizens, und diese
Identität bindet sie nicht nur an den jeweiligen Platz ihres Lebens und
ihrer Arbeit, sondern an die ganze Welt.
Das allumfassende System der Kultur brach in viele Teilsysteme auf,
und zwar keinesfalls nur in die von C. P. Snow beschriebenen zwei
Kulturen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften. Die
Marktmechanismen befreien sich zunehmend von den Konventionen
der Schriftkultur. Wo immer schriftkulturelle Normen und Regelungen
diese Emanzipation verhindern wollen--etwa durch Maßnahmen der
Regierung, bürokratische Vorschriften von Behörden, durch Militär
und Justiz--bezahlen wir dafür mit geringerer Effizienz. Wie sehr
Europa auch immer vereint sein wird, wenn sich die Mitgliedsstaaten
nicht von den ihre Lebensfähigkeit beeinträchtigenden
schriftkulturellen Zwängen befreien, werden die anstehenden Konflikte
nicht bewältigt, und die möglichen Lösungen rücken in weite Ferne.
Eine letzte Bemerkung: Die Publikationsindustrie der Wissenschaft
kann noch immer nicht begreifen, daß jemand einen Gedanken findet,
der nicht auf einem Zitat beruht. Im Einklang mit der
Autoritätsfixierung der Schriftkultur habe ich all jene Werke angeführt,
die sich in irgendeiner Weise auf den Inhalt dieses Buches ausgewirkt
haben. Nur sehr wenige werden im Text selbst erwähnt. Ich habe mir
erlaubt, der Entwicklung meines Gedankengangs Priorität vor den
stereotypen Fußnotenverweisen einzuräumen. Das soll mich jedoch
nicht daran hindern, neben Leibniz und Peirce den Einfluß zahlreicher
weiterer Gelehrter anzuerkennen, insbesondere von Humberto
Maturana, Terry Winograd, George Lakoff, Lotfi Zadeh, Hans Magnus
Enzensberger, George Steiner, Marshall McLuhan, Ivan Illich, Jurij M.
Lotman und sogar Jean Baudrillard, dem Essayisten des
postindustriellen Zeitalters. Wenn ich irgend jemanden ungenau
wiedergebe, geschieht dies nicht aus Mißachtung seines Werks. In der
Verfolgung des eigenen Erkenntnisinteresses und der eigenen
Argumentation habe ich von ihren Gedanken eingebaut, was mir ein

brauchbarer Baustein in meinem Gedankengebäude zu sein schien. Für
Entwurf und Bauweise trage allein ich die Verantwortung und stelle
mich gern der Kritik. Das mindert nicht im geringsten meinen Dank an
all jene, deren Fingerabdrücke auf manchen Bausteinen zu erkennen
sind.
In den fünfzehn Jahren, in denen ich an diesem Buch gearbeitet habe,
sind viele der von mir diskutierten Entwicklungen für jeden erkennbar
eingetreten. Aber ich bin alles andere als unglücklich oder überrascht
zu sehen, daß sich die Realität verändert hat, noch bevor dieses Buch
erscheinen konnte. Als ich die Gedanken, die schließlich in dieses Buch
eingingen, erstmals mit Studenten diskutierte, in Vorträgen vorstellte
und vor politischen, administrativen oder wissenschaftlichen Kreisen
veröffentlichte, hatte das Internet noch nicht die Börse bestimmt, waren
die Bücher über den Zukunftsschock mit ihren schäumenden
Prophezeiungen noch nicht erschienen und hatte noch kein
Unternehmen das große Geld mit den Multimedien gemacht. Das Buch
sollte indes nicht nur Vorgänge und Tendenzen beschreiben, sondern
auch ein Programm für praktisches Handeln entwickeln. Deshalb
widme ich mich nach den theoretischen Teilen angewandten
Fragestellungen. (In der deutschen Fassung wurden die Teile, die dem
neuen Status der Familie, der Sexualität, dem Kochen und Essen sowie
der Kunst und Literatur gewidmet sind, nicht übernommen).
Abschließend versuche ich praktische Maßnahmen vorzuschlagen, die
sich als Alternativen zu den eingetretenen Pfaden verstehen. Ich würde
es in der Tat gern sehen, wenn man meine Vorschläge prüfen und
anwenden, übernehmen und weiterentwickeln würde (ob unter
Würdigung meiner Urheberschaft oder nicht!). Und lieber würde ich
eine kritische oder ablehnende Rezeption dieses Buches in Kauf
nehmen, als die Tatsache, daß es unbemerkt bliebe.

BUCH I.

Kapitel 1:

Die Kluft zwischen Gestern und Morgen Kontrastfiguren
Heutzutage wird an einem einzigen Tag mehr Information produziert
als in den vergangenen 300 Jahren zusammen. Die Bedeutung dieser
trockenen Zahlen aus dem Bereich der Datenverarbeitung wollen wir
an einem Beispiel verdeutlichen.
Die Friseurin Zizi und ihre Freunde vertreten den heutigen Zeitgeist
und die lesefähige Bevölkerung mit durchschnittlicher Schulbildung.
Hans Magnus Enzensberger vergleicht sie in seinen "Gesammelten
Zerstreuungen" mit Pascal, der seine Arbeit über die Kegelschnitte als
16jähriger veröffentlicht hatte, mit Hugo Grotius, der im Alter von 15
Jahren seinen Hochschulabschluß erwarb, und mit Melanchthon, der
bereits mit zwölf Jahren an der berühmten Heidelberger Universität
eingeschrieben war. Zizi weiß, wo es langgeht. Sie ist
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