Jenseits der Schriftkultur, vol 1 | Page 7

Mihai Nadin
Schriftkultur
eine relativ junge Errungenschaft der Menschen ist. 99% der
Menschheitsgeschichte liegen vor der Schriftkultur. Ich bezweifele, daß
historische Kontinuität eine Voraussetzung der Schriftkultur ist. Wenn
wir indessen begreifen, was das Ende der Schriftkultur in seinen
praktischen Auswirkungen bedeutet, können wir die Klagen vergessen
und uns aktiv auf eine Zukunft einrichten, von der alle nur profitieren
können. Wenn wir etwas genauere Vorstellungen von dem entwickeln
würden, was sich am Horizont abzuzeichnen beginnt, könnten wir vor
allem ein besseres, effektiveres Bildungssystem entwerfen. Wir wüßten
dann auch, was die einzelnen Menschen brauchen, um sich in ihrer
Mannigfaltigkeit in dieser Welt erfolgreich zurechtzufinden.
Verbesserte menschliche Interaktion, für die es mittlerweile
ausreichende technologische Möglichkeiten gibt, sollte dabei im
Mittelpunkt stehen.
Es liegt natürlich eine gewisse Ironie in dem Umstand, daß jede
Veröffentlichung über die Möglichkeiten jenseits der Schriftkultur
ausgerechnet denen, um die es uns dabei besonders geht, nicht
zugänglich ist. Von den vielen Millionen derer, die im Internet aktiv
sind, lesen die meisten höchstens einen aus drei Sätzen bestehenden
Absatz. Die Aufmerksamkeitsspanne von Studierenden ist nicht
wesentlich kürzer als die ihrer Dozenten: eine Druckseite. Gesetzgeber
und Bürokraten verlassen sich bei längeren Texten auf die
Zusammenfassungen ihrer Mitarbeiter. Ein halbminütiger
Fernsehbericht übt größeren Einfluß aus als ein ausführlicher
vierspaltiger Leitartikel. Eine weitere Ironie liegt natürlich darin, daß

das vorliegende Buch Argumente vorstellt, die in ihrer logischen
Abfolge von den Konventionen des Schreibens und Lesens abhängen.
Als Medium der Konstituierung und Interpretation von Geschichte
beeinflußt die Schrift natürlich Art und Inhalt unseres Denkens.
Ich will daher vorausschicken, gewissermaßen um mir selbst Mut zu
machen, daß das Ende der Schriftkultur nicht gleichbedeutend mit
ihrem völligen Verschwinden ist. Die Wissenschaft von der
Schriftkultur wird eine neue Disziplin, so wie Sanskrit oder Klassische
Philologie eine sind. Für andere wird sie ein Beruf bleiben, wie sie es
jetzt schon für Herausgeber, Korrektoren und Schriftsteller ist. Für die
Mehrheit wird sie fortbestehen als eine von vielen Spezialsprachen und
Bildungsformen, als eine von vielen Literalitäten, die uns den
Gebrauch und die Integration der neuen Medien und der neuen
Kommunikations- und Interpretationsformen erleichtern. Der Utopist in
mir sagt, daß wir die Schriftkultur neu erfinden und damit retten
werden, denn sie hat eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung zur
neuen Zivilisation gespielt. Der Realist in mir erkennt, daß neue Zeiten
und neue Herausforderungen, um ihre Komplexität in den Griff zu
bekommen, neue Mittel erfordern. Unser Widerwillen, den Umbruch zu
akzeptieren, wird ihn nicht verhindern. Er wird uns nur daran hindern,
ihn mit zu gestalten und das Beste daraus zu machen.
Das vorliegende Buch möchte keine Schöne Neue Welt verkünden, in
der die Menschen zwar weniger wissen, aber doch alles das wissen,
was sie im Bedarfsfall wissen müssen. Es handelt auch nicht von
Menschen, die--oberflächlich, mittelmäßig und extrem
wettbewerbsorientiert--sich leicht auf Veränderung einstellen. Es
beschäftigt sich vielmehr mit der Sprache und mit Bereichen, die von
ihr wesentlich erfaßt sind: Politik, Bildung, Markt, Krieg, Sport und
vieles mehr. Es ist ein Buch über das Leben, das wir den Wörtern beim
Sprechen, Schreiben und Lesen verleihen. Wir geben aber auch Bildern,
Tönen, Zeichengebilden, Multimedien und virtuellen Realitäten Leben,
wenn wir uns in neue Interaktionsformen einbinden. Die Grenzen der
Schriftkultur in praktischen Tätigkeiten zu überschreiten, für deren
Ausführung die Schriftkultur keine ausreichenden Mittel zur Verfügung
stellen kann, heißt letztlich, in eine neue Zivilisationsphase

hineinzuwachsen. Jenseits der Schriftkultur? Zunächst möchte ich
meinen methodischen Ansatz darlegen. Die Sprache erfaßt den
Menschen in allen seinen Aspekten: den biologischen Anlagen, seinem
Raum- und Zeitverständnis, seinen kognitiven und manuellen
Fähigkeiten, seinem Gefühlshaushalt, seiner Empfindungskraft, seiner
Gesellschaftlichkeit und seinem Hang zur politischen Organisation des
Lebens. Am deutlichsten aber tritt unser Verhältnis zur Sprache in der
Lebenspraxis zutage. Unsere beständige Selbstkonstituierung durch das,
was wir tun, warum wir es tun und wie wir es tun--unsere Lebenspraxis
also--vollzieht sich mittels der Sprache, ist aber nicht darauf zu
reduzieren. Die hier verwendete pragmatische Perspektive greift auf
Charles Sanders Peirce zurück. Die semiotischen Implikationen meiner
Überlegungen beziehen sich auf sein Werk. Er verfolgt die Frage, wie
Wissen zu gemeinsamem Wissen wird: nur über die Träger unseres
Wissens--alle von uns gebildeten Zeichenträger--können wir ermitteln,
wie die Ergebnisse unseres Denkens in unsere Handlungen und
Theorien eingehen.
Die Sprache und die Bildung und Formulierung von Gedanken ist
allein dem Menschen eigen. Sie machen einen wesentlichen Teil der
kognitiven Dimension seiner Lebenspraxis aus. Wir scheinen über die
Sprache so zu verfügen wie über unsere Sinne. Aber hinter der Sprache
steht ein langer Prozeß der menschlichen Selbstkonstituierung, der die
Sprache erst möglich und schließlich notwendig machte. Dieser Prozeß
bot letztendlich auch die Mittel, uns in dem Maße als schriftkulturell
gebildet zu konstituieren, wie es die jeweiligen Lebensumstände
erforderten. Es sieht nur so aus, als sei die Sprache ein nützliches
Instrument; in Wirklichkeit ergibt sie sich aus unserem
lebenspraktischen Zusammenhang. Wir können einen Hammer oder
einen Computer benutzen, aber wir sind unsere Sprache. Und die
Erfahrung
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