Zukunft gehört
der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin
Einleitung
Schriftkultur in einer sich wandelnden Welt
Alternativen
Wenn wir uns mit der Sprache befassen, befassen wir uns mit uns
selbst, als Person und als Gattung. Wir sehen uns heute vielen
Bedrohungen ausgesetzt--Terrorismus, AIDS, Armut, Rassismus, große
Flüchtlingsströme--, aber eine dieser ernsthaften Bedrohungen scheint
am leichtesten zu ertragen zu sein: Schriftlosigkeit und schriftkulturelle
Unbildung. Dieses Buch verkündet das Ende der Schriftkultur und
versucht, die unglaublichen Kräfte zu erklären, die die beunruhigenden
Veränderungen in unserer Welt vorantreiben. Das Ende der
Schriftkultur--also die Kluft zwischen einem noch gar nicht so weit
zurückliegenden Gestern und einem aufregenden, aber auch
verwirrenden Morgen--zu verstehen, ist offensichtlich schwerer, als mit
ihm zu leben. Die Tatsache des Umbruchs nicht anerkennen zu wollen,
erleichtert das Verstehen nicht gerade. Wir sehen alle, daß die
schriftkulturelle Sprache nicht so funktioniert, wie sie nach Meinung
unserer Lehrer eigentlich funktionieren sollte, und wir fragen uns, was
wir dagegen tun können. Eltern glauben, daß bessere Schulen mit
besseren Lehrern Abhilfe schaffen könnten. Die Lehrer schieben die
Schuld auf die Familie und fordern höhere Ausgaben im
Bildungssektor. Professoren klagen über schlechte Motivation und
Vorbildung der Studienanfänger. Verleger suchen angesichts der neuen,
miteinander konkurrierenden Ausdrucks- und Kommunikationsformen
nach neuen Verlagsstrategien. Juristen, Journalisten, Berufssoldaten
und Politiker zeigen sich über die Rolle und die Funktion der Sprache
in der Gesellschaft besorgt. Vermutlich sind sie jedoch eher besorgt um
ihre eigene Rolle und die Funktion der von ihnen repräsentierten
Institutionen in der Gesellschaft und setzen alles daran, die Strukturen
einer Lebenspraxis zu festigen, die nicht nur die Schriftkultur, sondern
vor allem ihre eigene Machtposition und ihren Einfluß stärken. Die
wenigen, die daran glauben, daß die Schriftkultur nicht nur Fertigkeiten,
sondern auch Ideale und Werte vermittelt, sehen gar unsere Zivilisation
auf dem Spiel stehen und fürchten angesichts der abnehmenden
traditionellen Bildungsstandards das Schlimmste. Niemand redet von
Zukunftschancen und ungeahnten Möglichkeiten.
Über das Beschreiben der Symptome kommt man dabei nicht hinaus:
Abnahme der allgemeinen Lese- und Schreibfähigkeit (in den USA
erreicht die sogenannte
functional illiteracy fast 50%); eine alarmierende Zunahme
vorgefertigter Sprachhülsen (Sprachklischees, vorgefertigte
Mitteilungen); die verbreitete Vorliebe für visuelle Medien anstelle der
Sprache (besonders Fernsehen und Video). Neben der Forschung zu
diesen Fragen gibt es massive öffentliche Kampagnen zur Stärkung
aller möglichen schriftkulturellen Unternehmungen: Unterricht für
Analphabeten, zusätzlicher Sprachunterricht auf allen Ebenen und
Öffentlichkeitsarbeit, die für dieses Problem sensibilisieren soll. Was
immer diese Aktionen bewirken mögen, sie helfen nicht zu verstehen,
daß es sich bei alldem um eine zwangsläufige Entwicklung handelt.
Die historischen und systematischen Aspekte der Schriftkultur und der
zurückgehenden Sprachkenntnisse bleiben unbeachtet.
Mein Interesse an diesen Fragen ist durch zwei persönliche Umstände
geweckt worden: Zum einen bin ich in einer osteuropäischen Kultur
aufgewachsen, die trotzig an den strengen Strukturen der Schriftkultur
festhielt. Zum andern habe ich den anderen Teil meines bisherigen
Lebens dem Bereich gewidmet, den man heute die neuen Technologien
nennt. Ich kam schließlich in die Vereinigten Staaten, in ein Land mit
unstrukturierter und brüchiger Schriftkultur und unglaublicher,
zukunftsgerichteter Dynamik. Ich lebte mit denen zusammen, die unter
den Folgen eines schlechten Bildungssystems zu leiden hatten und
denen gleichzeitig diese neuen Möglichkeiten offenstanden. Die
meisten von ihnen hatten keinerlei Kontakt zu dem, was an Schulen
und Universitäten vor sich ging. Das war der Anlaß für mich, wie für
viele andere auch, über Alternativen nachzudenken.
Alles, was die Menschen in meiner neuen Lebensumgebung
taten--Einkaufen, Arbeiten, Spiel und Sport, Reisen, Kirchgang und
selbst die Liebe--, geschah mit einem Gefühl der Unmittelbarkeit. Als
Anbeter des Augenblicks standen meine neuen Landsleute in scharfem
Kontrast zu den Menschen des europäischen Kontinents, von denen ich
kam und deren Ziel in der Dauerhaftigkeit liegt--ihrer Familie, ihrer
Arbeit, ihrer Werte, ihrer Arbeitsmittel, ihres Zu Hauses, ihrer Heimat,
ihrer Autos und ihrer Häuser. In den USA ist alles gegenwärtig. An
Fernsehsendungen und Werbung ist das sofort zu erkennen. Aber auch
die Lebensdauer von Büchern wird bestimmt von den Bestsellerlisten.
Der Markt feiert heute den Erfolg eines Unternehmens, das es morgen
nicht mehr gibt. Alle anderen, wichtigen und alltäglichen, Ereignisse
des Lebens, alle Modetrends, die Produkte der Popkultur, überhaupt
alle Produkte sind dieser Fixierung auf den Augenblick unterworfen.
Sprache und Schriftkultur können sich diesem Prinzip des Wandels
nicht entziehen. Als Universitätsprofessor stand ich an der Front, an der
der Kampf um die Schriftkultur ausgetragen wurde. Hier begriff ich,
daß bessere Studienpläne, besser bezahlte Dozenten und bessere und
billigere Lehrbücher zwar einiges bewirken könnten, aber letztlich an
der Misere nichts ändern würden.
Der Niedergang der Schriftkultur ist ein allumfassendes Phänomen, das
sich nicht auf die Qualität des Bildungssystems, auf die
Wirtschaftskraft eines Landes, auf den Status sozialer, ethnischer oder
religiöser Gruppen, auf das politische System oder auf die
Kulturgeschichte reduzieren läßt. Es gab menschliches Leben vor der
Schriftkultur, und es wird es jenseits von ihr geben. Es hat im übrigen
bereits begonnen. Wir sollten nicht vergessen, daß die
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