Japanischer Frühling | Page 7

Hans Bethge
seines
Tanka möglichst auf verschiedene Vokale endigen zu lassen, um so
eine möglichst grosse Reichhaltigkeit an Klängen zu erzielen.
Die Regeln des Tanka wurden schon 700 Jahre vor unserer
Zeitrechnung durch Sosano-Ono-Mikoto, einen Dichter des heroischen
Zeitalters, fixiert. Im Jahre 905 nach Christi Geburt wurden sie durch
den Dichter Tsurayuki, den ersten Minister der Poesie unter Kaiser
Daïgo, in der Vorrede zu jener berühmten ersten grossen Anthologie,
welche sich Manyoshu nennt, befestigt. Diese Regeln wurden nie einer
Veränderung unterworfen und sind heute genau dieselben wie vor 2600
Jahren. In alten Zeiten pflegte man auch mehrere Utas zu längeren
Gedichten zusammenzusetzen (Naga-Uta). Seit dem sechzehnten
Jahrhundert beschränkte man sich, besonders in Scherzgedichten, nicht
selten auf die ersten drei Zeilen eines Uta, um Gedichte von besonders
epigrammatischer Kürze zu bilden. Das sind die einzigen Varianten der
alten Form,--wenn man von Formvarianten hier überhaupt sprechen
kann.
Die ausserordentliche Kürze des Uta oder Tanka hat ihre Nachteile. Die
Dichter wollen möglichst viel in einem solchen Kurzgedicht
ausdrücken und werden nicht selten dunkel durch übertriebene
Kondensierung. Kommentatoren haben alte berühmte Tankas immer
wieder ausgelegt, und über den Sinn so mancher Gedichte aus
klassischer Zeit hat man sich bis heute nicht einig werden können.
Die Blütezeit der japanischen Lyrik liegt weit zurück. Die erste
klassische Epoche wird repräsentiert durch die schon erwähnte grosse
Anthologie Manyoshu ("Sammlung der Myriaden Blätter"), die
vermutlich durch den Sammeleifer des Dichters Yakamochi

zusammengebracht und im Jahre 759 abgeschlossen wurde. Sie
vereinigt in 20 Büchern 4500 Gedichte; aus der grossen Zahl der in ihr
vertretenen Dichter ragen neben Yakamochi vor allem der Elegiker
Hitomaro, der Landschafter Akahito und der Realist Okura hervor.
Hitomaro gilt in Japan als der grösste Dichter der Nation. Man hat ihm
Tempel errichtet, und sein Leben, von dem man wenig weiss, ist durch
die Legende phantastisch ausgeschmückt worden. Es geht das Gerücht,
ein Poet brauche nur Hitomaro anzurufen, um ein gutes Gedicht bilden
zu können.
Die Dichter der bald folgenden zweiten, "goldenen" klassischen
Epoche sind uns in einer anderen, 1100 Gedichte umschliessenden
Anthologie, im Kokinshu ("Sammlung alter und neuer Gedichte")
erhalten, das im Auftrage des Kaisers Daïgo durch den Dichter
Tsurayuki gesammelt und im Jahre 905 beendet wurde. Hier sind neben
dem zarten Tsurayuki besonders der mannhafte Henjo und der
schwermütige Prinz Narihira zu nennen, dessen hervorragende
körperliche Schönheit noch heute sprichwörtlich in Japan ist.
Manyoshu und Kokinshu sind die wichtigsten aller japanischen
Anthologien, deren später, zumeist auf Veranlassung der Kaiser, noch
viele hergestellt wurden. Auch die Lieder unseres Buches gehen zum
grossen Teil auf jene beiden unerreichten klassischen Sammlungen
zurück.
Der Blüte folgte ein trostloser Verfall. Hundert Jahre etwa hielt sich die
Dichtung noch auf einem würdigen Niveau, dann gelangte ein öder,
pedantischer Formalismus zur Herrschaft und legte alle freien
poetischen Regungen jahrhundertelang in Fesseln. Das Versemachen
wurde als eine erlernbare Beschäftigung betrachtet, die man nach
bestimmten starren Zunftgesetzen auszuüben hatte, wie es ja auch in
Deutschland eine Zeitlang Sitte war. Auch in Japan wurden, genau wie
bei uns, Sängerwettstreite (Uta-Awase) veranstaltet, die sich übrigens
bis in die neueste Zeit erhalten haben und die eine allgemeine
Veredelung der Poesie im Lande bezwecken sollten, während sie in
Wirklichkeit gerade das Gegenteil zur Folge hatten. Sogar den Frauen
wurden solche Sangeswettstreite eingeräumt, auf denen zumeist recht

alberne Themata zu Utas poetisch "verarbeitet" wurden. Der Preis der
Sieger bestand darin, dass ihre Poesien dem Kaiserpaare vorgelesen
und zugleich mit den eigenen Gedichten des Kaisers oder der Kaiserin
veröffentlicht wurden.
Die eigentliche Entwickelung der japanischen Literatur seit der
klassischen Zeit bis heute hat dem Roman und dem Drama gegolten,
aber nicht der Lyrik. Motoori Norinaga, eine energische Kämpfernatur,
die man etwa mit Lessing vergleichen kann, hat sich gegen Ende des
achtzehnten Jahrhunderts leidenschaftlich bemüht, dem schrecklichen
Formelwesen der japanischen Liederdichtung ein Ende zu bereiten;
sein Streben war auch von einigen Erfolgen begleitet, aber eine
wirkliche Blüte hat die japanische Lyrik bis heute nicht wieder zu
erreichen vermocht, auch nicht durch jene von Europa beeinflussten

revolutionären Versuche, dem Versbau neue Formen zu erschliessen,
die von einigen kühnen Dichtern der letzten Zeit ausgegangen sind.
Was die Nachdichtungen des vorliegenden Bandes angeht, so habe ich,
obwohl ein Freund konzentrierten Ausdrucks, erst in zweiter Linie auf
Knappheit der Form gehalten und vor allem der Klarheit und

Durchsichtigkeit mich befleissigt. Hätte ich überall die Knappheit der
Originale beibehalten wollen, so wäre ich oft gezwungen gewesen, den
Gedichten erklärende Fussnoten beizugeben, und auf diese Weise wäre
die Lektüre recht umständlich und überhaupt eine andere geworden, als
ich mir für diese Verse wünschte. Mir lag daran, Gedichte zu bilden,
die durch sich selbst einen poetischen Reiz ausüben sollten, und ich
möchte hoffen, dass von der japanischen Farbe wenigstens so viel auf
sie übergegangen ist, wie man bei derartigen Nachbildungen verlangen
muss.
Die Vorbilder für meine Nachdichtungen sind vor allem in der
Geschichte der japanischen Literatur von Karl Florenz zu finden; auch
die
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