Japanischer Frühling | Page 6

Hans Bethge
dass die Blüten nimmermehr
Aufhören, meine Seele
zu entzücken?
Ich habe längst mich von der ganzen Welt

Zurückgezogen; alles ist mir gleich.--
Wie aber kommt es, dass ich
ganz beglückt
Beim Anblick einer schönen Blüte bin?
DAS ALTER
KIUTSUNE
Einst lagen volle Blumen, wie der Schnee so weiss.
Auf meinem
schwarzen Haar; sie leuchteten
Und waren köstlich, doch der Sturm
hat sie verweht.
Die weissen Blüten, die das Haupt mir heute zieren,
Sind nicht von
jenen, die der Wind verweht.
Des Alters Blumen sind erblüht in
meinem Haar.

STEUERLOS
SONE NO YOSHITAKA
So wie der Schiffer, der sein Steuerruder
Verlor auf wilder See, nun
der Gewalt
Der Elemente preisgegeben hintreibt:
So fühl ich meine
Liebe steuerlos
Hintreiben auf dem Meere des Gefühls.
AN DIE KIRSCHENBLÜTEN
SAKINO DAISOJO GYOSON
Duftige Kirschenblüten! Liebliche
Mitwisser meiner Qual! Zeigt
doch ein wenig
Mitleid mit diesem Herzen,--denn nur ihr
Kennt ja
mein grosses Weh; den andern allen
Muss ichs verschweigen, dass
ich elend bin.
AN DIE WILDGÄNSE
PRINZ MUNENAGA
Eilt nicht so sehr, Wildgänse dort am Himmel,
In eure alte Heimat
heimzukehren,--
Wisst ihr denn nicht, dass eurer Heimat Berge

Euch längst vergassen, da ihr ferne wart?
LIEBESBRIEF
UNBEKANNTE DICHTERIN
Gross ist mein Wunsch, dein Angesicht zu schauen.
Und gross ist
meine Lust, mit dir zu plaudern,--
Doch muss ich solcher Freuden
mich enthalten.
Denn wenn durch Zufall einer von den Meinen
Oder auch einer von
den Nachbarn nur
Erführe, dass wir beieinander waren,
Ich würde Qualen leiden wegen des
Geschwätzes, das man führte.

Dass mein Ruf,
Mein guter Ruf verloren ginge, war.
Mir völlig gleich. Doch würd ich trostlos sein,
Wenn des verlornen
guten Rufes wegen
Du weniger mich liebtest als zuvor.
VERGEBENES WARTEN
AUS DEM SINGSPIEL MIIDERA
Ich harre meiner Liebsten in der Nacht.
Ich höre, wie die Glocke
Stund um Stunde
Ins Dunkel ruft. Abscheulich ist fürwahr
Der
Schrei des Hahns, wenn er die Liebenden,
Die sich umarmen,
auseinanderreisst.
Doch er bedeutet nichts, verglichen mit
Der
fürchterlichen Qual, da man umsonst
Mit wilder Sehnsucht auf die
Liebste harrt!
UM MIT DIR ZU LEBEN
VOLKSLIED
Um mit dir zu leben, die ich liebe,
Wäre es mir recht,
In ärmlicher
Hütte zu hausen,
Mich am Webstuhl zu mühen
Oder am Spinnrad.
Um mit dir zu leben, die ich liebe.
Wäre es mir recht,
Die Wäsche
zu waschen
Im fliessenden Fluss
Oder das Gras in der Sonne zu
schneiden.
DER LIEBESLAUT
KURTISANE SEGAWA
Da traf ein Laut, ein zarter Liebeslaut,
Der aus dem ersten Stockwerk
kam, mein Ohr:
Und das war süss und lieblich wie das Säuseln
Der
Frühlingsblumen, die um Mitternacht
Am More-Flusse ihren Duft
verstreun.
DIE WEIDE IM WIND
UNBEKANNTER DICHTER

Die Sommerweide
Zeigt ihren schlanken Stamm,
Wenn der
wehende Wind
Durch ihre feinen Zweige fährt.
Deine schlanken Füsse, meine Weide,
Sah ich heute,
Da der
verliebte Wind
Kosend durch deine Kleider fuhr.
NACH DEM BADE
UNBEKANNTER DICHTER
Wenn sie dem Bad entsteigt, so flammt
Ihr schönes Antlitz feurig auf,

Dass sie dem roten Ahorn gleicht,
Der herrlich durch den
Herbsttag glänzt.
BESCHRÄNKUNG
AUS DEM BUCHE YEHON CHITOSEYAMA
Ach, eng begrenzt ist der Besitz, den uns
Das Schicksal schenkt.
Zuerst geht unsre Sehnsucht
Nach einem ragenden Gebirg. Sodann

Scheint uns ein Berg genug,--dann gar ein Hügel,
Und wird auch der
uns nicht zuteil, so sind
Zufrieden wir mit einem Blütenbusch.
LEICHTES SPIEL
UNBEKANNTER DICHTER
Nichts leichter, als ein Mädchenherz
Beim milden Duft der
Pflaumenblüten
Bis in die Tiefen zu betören
Durch Liebessang und
Flötenspiel!
DIE MORGENGLOCKE
SANDARA
Wenn du, erbarmungslose Morgenglocke,
Den Schmerz der
Liebestrennung ahnen würdest.
Du würdest nicht die wahre Stunde

rufen
Beim Morgengrauen,--sondern würdest gerne
Bereit sein,
lügnerisch die Zeit zu künden.
TÄUSCHUNG
YORIKITO
Ich glaubte, dass die weissen Blüten
Des Frühlings mir
entgegentrieben.
Ich irrte mich. Es war das Glänzen,
Das Liebesglänzen deiner
Schönheit.
GELEITWORT
ANMERKUNGEN
ANORDNUNG
GELEITWORT
Die japanische Lyrik lässt sich gut mit den japanischen

Tuschzeichnungen vergleichen: sie gibt, gleich jenen, mehr Andeutung
als Ausführung, sie will in aller Kürze einen fest umrissenen Eindruck
erreichen, sie hat einen vorwiegend impressionistischen Charakter. Wir
finden in ihr, gerade wie in den japanischen Zeichnungen, vor allem die
Liebe für das Zarte und Blütenhafte, für Frühling, Blumen und feinen
Duft. Die einzelnen Persönlichkeiten treten in dieser lyrischen Kunst
nicht stark hervor, im Gegensatz zur chinesischen.
Japan ist das Land der Gelegenheitsdichter. Wir besitzen Gedichte von
Kaisern und Kaiserinnen, Hofleuten, Gelehrten und Kurtisanen. Im
zehnten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung war die Dichtkunst in Japan
so verbreitet, dass sich der Kaiser Daïgo veranlasst sah, ein

"Ministerium für poetische Angelegenheiten", wie wir heute sagen
würden, einzusetzen. Ein solches Ministerium gibt es jetzt nicht mehr,
aber die Freude an der Formung kleiner Gedichte ist in Japan noch
heute allgemein.
Seit alters her gibt es für das japanische lyrische Gedicht nur eine
einzige, streng bewahrte, klassische Form: Tanka oder Uta genannt. Ein

solches Tanka besteht immer aus einunddreissig Silben, die sich auf die
fünf Zeilen des Gedichtes folgendermassen verteilen: 5-7-5-7-7.
Das Tanka ist reimlos. Die japanische Sprache ist für den Reim nicht
geschaffen, denn sämtliche Worte endigen auf einen der fünf Vokale a,
e, i, o, u. Wollte man also reimen, so müsste man immer wieder zu den
gleichen monotonen Reimen einfacher Vokale greifen, und das wäre
auf die Dauer mehr grotesk als schön. Nein, die Aufgabe des
japanischen Dichters ist es im Gegenteil, die einzelnen Zeilen
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