J. W. v. Goethes Biographie | Page 8

H. Doering
Vor sclavischer Nachahmung bewahrte ihn sein besseres
Gefühl. Was die Poesie der genannten Dichter Vortreffliches hatte,
glaubte er nicht erreichen zu können; aber er fürchtete, in ihre Fehler zu
verfallen. Er hatte zu sich und seinem Talent das Vertrauen verloren,
und fand es erst wieder in dem Umgange mit mehreren gebildeten und
kenntnisreichen jungen Männern, zu denen unter andern sein
Landsmann und nachheriger Schwager Schlosser gehörte, der damals
als geheimer Secretär des Herzogs Ludwig von Würtemberg diesen
Fürsten nach Leipzig begleitet hatte.
Durch Schlosser, der als Schriftsteller nicht unrühmlichbekannt war,
erhielt Goethe Zutritt zu manchen gelehrten und einflußreichen
Männern. Auch mit Gottsched, dem damaligen Tonangeber des
ästhetischen Geschmacks, dessen Aussprüche, seinem Antagonisten
Breitinger zum Trotz, noch immer als Orakel galten, ward Goethe auf
die erwähnte Weise bekannt. Er fand ihn im ersten Stockwerk des
goldnen Bären, welches ihm von seinem Verleger Breitkopf, aus
Erkenntlichkeit für den großen Absatz seiner Schriften, zur
lebenslänglichen Wohnung eingeräumt worden war. In einem
Schlafrock von grünem Damast, mit rothem Taft gefüttert, trat
Gottsched, wie Goethe in spätern Jahren erzählte, ihm und Schlosser
entgegen. In demselben Augenblicke aber eilte ein Diener herbei, und
reichte ihm eine große Perücke, um sein kahles Haupt zu bedecken. Der
Saumselige bekam jedoch eine tüchtige Ohrfeige, worauf Gottsched
mit großer Ruhe und Gleichgültigkeit die beiden Fremden zum Sitzen
nöthigte und sich mit ihnen in ein Gespräch einließ, das meistens
literarische Gegenstände betraf.
Die beliebtesten englischen Autoren sich zum Muster zu wählen, hielt
Goethe für das wirksamste Mittel, um sich von dem seichten
Geschmack Gottsched's und seiner Schule frei zu erhalten. Aber auch
zu einem gründlichen Studium der bessern deutschen Schriftsteller, die
der Literatur eine neue Richtung gaben, ward Goethe durch den

Umgang mit mehreren vielseitig gebildeten jungen Männern geführt,
zu denen, außer einigen gebildeten Livländern, ein Bruder des Dichters
Zachariä, der nachherige Privatgelehrte Pfeil und der durch seine
geographischen und genealogischen Compendien bekannte
Schriftsteller Krebel gehörten. Fleißig las Goethe in Lessings, Gleims,
Hallers, Ramlers u. A. Schriften. Keiner dieser Dichter aber raubte ihm
die Vorliebe für Wieland. Den Eindruck, den das Lehrgedicht
"Muserion" damals auf ihn gemacht, schilderte er in spätern Jahren mit
den Worten: "Hier, in diesem Gedicht war es, wo ich das Antike
lebendig und neu vor mir zu sehen glaubte. Alles, was in Wielands
Natur plastisch war, zeigte sich hier aufs Vollkommenste, und da der zu
unglückseliger Nüchternheit verdammte Phanias-Timon sich zuletzt
wieder mit seinem Mädchen und mit der Welt versöhnte, so mochte ich
die menschenfeindliche Epoche wohl mit ihm durchleben."
Ein flüchtiges Interesse nahm Goethe an der lange dauernden
literärischen Fehde, welche die Verschiedenheit religiöser Meinungen
zwischen den beiden Leipziger Professoren Ernesti und Crusius
hervorrief. Jener ging bekanntlich in der biblischen Hermeneutik von
allgemeinen philologischen Grundsätzen aus, während Crusius zu einer
mystischen Erklärungsweise der heiligen Schrift sich hinneigte.
Lebhafter, als für diese theologische Polemik, interessirte sich Goethe,
neben seiner Beschäftigung mit der Dichtkunst und den schönen
Wissenschaften, für die eifrigen Bemühungen Jerusalems, Zollikofers,
Spaldings und anderer berühmten Theologen, in Predigten und
Abhandlungen der Religion und Moral aufrichtige Verehrer zu
verschaffen. Zurückgeschreckt durch die barocke Schreibart der
Juristen, bildete Goethe nach jenen Mustern, besonders nach
Mendelssohn und Garve, seinen Styl.
Poetischen Stoff sammelte er auf einsamen Spaziergängen durch das
Rosenthal, nach Gohlis und andern benachbarten Orten. Zu einer Idylle,
auf die er noch in spätern Jahren einigen Werth legte, begeisterte ihn
Annette, die Tochter eines Wirths, bei welchem er mit mehreren
Freunden seinen Mittagstisch hatte. Ueber sein Liebesverhältniß
entwarf Goethe in spätern Lebensjahren eine anziehende Schilderung in
den Worten: "Ich war nach Menschenweise in meinen Namen verliebt,
und schrieb ihn, wie junge Leute zu thun pflegen, überall an. Einst
hatte ich ihn auch sehr schön und genau in die glatte Rinde eines

Lindenbaums geschnitten. Den Herbst darauf, als meine Neigung zu
Annetten in ihrer besten Blüthe war, gab ich mir die Mühe, den ihrigen
oben darüber zu schneiden. Indeß hatte ich gegen Ende des Winters, als
ein launischer Liebhaber, manche Gelegenheit vom Zaun gebrochen,
sie zu quälen und ihr Verdruß zu machen. Im Frühjahr besuchte ich
zufällig die Stelle. Der Saft, der mächtig in die Bäume trat, war durch
die Einschnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht
verharrscht waren, hervorgequollen, und benetzte mit unschuldigen
Pflanzenthränen die schon hart gewordenen Züge des meinigen. Sie
hier über mich weinen zu sehen, der ich oft durch mein Benehmen ihre
Thränen hervorgerufen hatte, versetzte mich in Bestürzung. In
Erinnerung meines Unrechts und ihrer Liebe kamen mir selbst die
Thränen in die Augen. Ich eilte, ihr Alles doppelt und dreifach
abzubitten, und verwandelte jenes Ereigniß in eine Idylle, die ich
niemals ohne Rührung lesen oder Andern mittheilen konnte."
Aus der poetischen Gattung, zu der jenes Gedicht gehörte, ward Goethe
bald wieder auf die dramatische Dichtkunst hingewiesen durch den
tiefen und bleibenden Eindruck, den Lessings Minna von Barnhelm auf
ihn machte. Dieß ganz eigentlich
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