J. W. v. Goethes Biographie | Page 6

H. Doering

Scham ergriff ihn, als er erfuhr, daß seine Genossen zum Verfälschen
von Papieren, zur Nachahmung von Handschriften und andern
sträflichen Handlungen ihre Zuflucht genommen hatten.
Von der trostlosen Stimmung, in die er dadurch versetzt ward, konnte
ihn nur Fleiß und Thätigkeit befreien. Er hatte aber auch noch manches
nachzuholen, um sich zur Universität vorzubereiten, die er bald
beziehen sollte. Ein weites Feld zu mannigfachen Betrachtungen
eröffneten ihm seine fortgesetzten philosophischen Studien,
größtenteils nach Brucker's Compendium. Dieser Beschäftigung ward
er wieder untreu, als der eintretende Frühling ihn in die freie Natur
lockte. Mit seinen Freunden besuchte er die in der Umgegend von
Frankfurt gelegenen Vergnügungsorte. Noch mehr aber behagte ihm, in
seiner Gemüthsstimmung die Einsamkeit der Wälder. In dem dunkeln
Schatten alter Eichen und Buchen weilte er am liebsten. Unwillkührlich
regte sich in ihm wieder der schon früh im elterlichen Hause erwachte
Trieb, nach der Natur zu zeichnen. Alles, was er sah, gestaltete sich
ihm zum Bilde. Fühlbar aber ward ihm bald, daß ihm nur die Gabe
verliehen war, die ihm entgegentretenden Gegenstände im Ganzen
aufzufassen. Zum Zeichnen des Einzelnen schien ihn die Natur aber so
wenig bestimmt zu haben, als zum betreibenden Dichter.

Demungeachtet setzte er seine Uebungen mit einer gewissen
Hartnäckigkeit fort. Er ermüdete nicht in der schwierigen Zeichnung
eines alten Baumstammes, an dessen gekrümmte Wurzeln sich
blühende Farrenkräuter hingen.
Mit Goethe's Skizzen, so unvollkommen sie auch seyn mochten, war
sein Vater im Allgemeinen zufrieden, wenn er auch Einzelnes daran
tadelte. Gern ließ er seinen Sohn umherstreifen, weil er von solchen
Ausflügen eine neue Zeichnung erwartete. Zu Fußwanderungen mit
einigen Freunden gönnte er ihm völlige Freiheit. Einen besondern Reiz
hatten für Göthe [Goethe] die Gebirgsgegenden. Er besuchte Homburg,
Kroneburg, bestieg den Feldberg und Königsstein, verweilte einige
Tage in Wiesbaden und Schwalbach, und kam bis an den Rhein. Den
jugendlichen Sinn, der sich mehr in der großen Natur, als in
abgeschlossenen Räumen gefiel, konnte Mainz nicht fesseln. Einen
erfreulichen Eindruck auf Goethe machte die anmuthige Lage von
Biberich. Von da kehrte er in seine Vaterstadt zurück, mit einer
ziemlich reichen Ausbeute von landschaftlichen Skizzen und
Zeichnungen der verschiedensten Art, unter denen manche seines
Vaters Beifall erhielten, andere jedoch auch scharf von ihm getadelt
wurden.
Dadurch verstimmt, schloß sich Goethe enger an seine Mutter an, die
ihm mehr Milde und Nachsicht bewies, und selbst noch jugendlich, mit
seinen Gefühlen und Lebensansichten mehr harmonirte, als der ernster
gestimmte Vater. Ein fast noch innigeres Verhältniß bestand zwischen
Goethe und seiner ungefähr ein Jahr jüngern Schwester Cornelia.
Gemeinschaftliches Spiel und Lernen in den Jahren der Kindheit hatte
späterhin, als sich beider physische und geistige Kräfte entwickelten,
ein festes Vertrauen und eine wahrhaft geschwisterliche Liebe erzeugt.
Goethe ward von seiner Schwester zum Vertrauten aller ihrer
Empfindungen und Herzensangelegenheiten gewählt. Ziemlich gut
bestand er im Allgemeinen, als sein Vater seine Kenntnisse in
einzelnen Materien der Jurisprudenz prüfte. Mehrere wissenschaftliche
Fächer beschäftigten seinen strebenden Geist, vorzüglich die
Geschichte der ältern Literatur. Durch das fortgesetzte Studium von
Geßners Isagoge und Morhofs Polyhistor, gerieth er fast auf den Irrweg,
selbst ein Vielwisser zu werden. Sein Tag und Nacht fortgesetzter Fleiß
drohte ihn eher zu verwirren, als wahrhaft zu bilden. Bayle's

historisch-kritisches Wörterbuch führte ihn vollends in ein Labyrinth,
aus welchem er sich kaum wieder herauszufinden wußte. Von der
großen Wichtigkeit einer gründlichen Sprachkenntniß hatte er sich
längst überzeugt. Das Hebräische war allmälig in den Hintergrund
getreten. Auch Goethe's Kenntnisse in der griechischen Sprache
reichten nicht viel weiter, als zum Verständniß des Neuen Testaments
im Urtexte. Ernstlicher hatte er sich mit dem Lateinischen beschäftigt.
Er war, obschon er keinen grammatikalischen Unterricht genossen,
ziemlich bewandert in den römischen Classikern.
Unter diesen Sprachstudien regte sich wieder in ihm der nie ganz
schlummernde Trieb poetischer Nachbildung. Seine Productionskraft,
die Leichtigkeit, womit er die Erzeugnisse seines Geistes niederschrieb,
hatte sich vermehrt. Jugendliche Eitelkeit ließ ihn seine poetischen
Producte mit einer gewissen Vorliebe betrachten. Der Tadel, den sie
mitunter erfuhren, raubte ihm nicht die Ueberzeugung, künftig wohl
Geisteserzeugnisse zu liefern, die sich mit denen eines Gellert, Uz,
Hagedorn und andern damals hochgefeierten Dichtern messen könnten.
Aber die poetische Laufbahn, so viel Lockendes sie auch für ihn hatte,
schien ihm doch zu schwankend und unsicher, um sie zu seinem
künftigen Lebensberuf zu wählen. Ein akademisches Lehramt lag im
Bereich seiner Wünsche. Dazu wollte er sich fähig machen, um zur
Bildung Anderer, wie zu seiner eigenen, etwas beitragen zu können.
Viel Lockendes hatte für Goethe der Aufenthalt in Göttingen, wo
Heyne, Michaelis und andere berühmte Männer lehrten. Sein Vater
bestand jedoch darauf, daß er seine akademische Laufbahn in Leipzig
beginnen sollte. Wiederholt schärfte er ihm zugleich ein, seine Zeit
auf's Zweckmäßigste zu benutzen. Von seinem Vater ward er hierin so
ausführlich belehrt, daß er, ohnedies verstimmt durch das Aufgeben
eines Göttinger Lieblingsplans, beinahe den Entschluß faßte, in seiner
Studien- und Lebensweise seinen eignen Weg zu verfolgen. Diese Idee
schien
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