Italienische Reise, vol 1 | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
durchaus über K?lte und N?sse. Ein Nebel, der für einen Regen gelten konnte, empfing mich heute früh vor München. Den ganzen Tag blies der Wind sehr kalt vom Tiroler Gebirg. Als ich vom Turm dahin sah, fand ich es bedeckt und den ganzen Himmel überzogen. Nun scheint die Sonne im Untergehen noch an den alten Turm, der mir vor dem Fenster steht. Verzeihung, da? ich so sehr auf Wind und Wetter achthabe: der Reisende zu Lande, fast so sehr als der Schiffer, h?ngt von beiden ab, und es w?re ein Jammer, wenn mein Herbst in fremden Landen so wenig begünstigt sein sollte als der Sommer zu Hause.
Nun soll es gerade auf Innsbruck. Was lass' ich nicht alles rechts und links liegen, um den einen Gedanken auszuführen, der fast zu alt in meiner Seele geworden ist!
Mittenwald, den 7. September, abends.
Es scheint, mein Schutzgeist sagt Amen zu meinem Kredo, und ich danke ihm, der mich an einem so sch?nen Tage hierher geführt hat. Der letzte Postillon sagte mit vergnüglichem Ausruf, es sei der erste im ganzen Sommer. Ich n?hre meinen stillen Aberglauben, da? es so fortgehen soll, doch müssen mir die Freunde verzeihen, wenn wieder von Luft und Wolken die Rede ist.
Als ich um fünf Uhr von München wegfuhr, hatte sich der Himmel aufgekl?rt. An den Tiroler Bergen standen die Wolken in ungeheuern Massen fest. Die Streifen der untern Regionen bewegten sich auch nicht. Der Weg geht auf den H?hen, wo man unten die Isar flie?en sieht, über zusammengeschwemmte Kieshügel hin. Hier wird uns die Arbeit der Str?mungen des uralten Meeres fa?lich. In manchem Granitgeschiebe fand ich Geschwister und Verwandte meiner Kabinettsstücke, die ich Knebeln verdanke.
Die Nebel des Flusses und der Wiesen wehrten sich eine Weile, endlich wurden auch diese aufgezehrt. Zwischen gedachten Kieshügeln, die man sich mehrere Stunden weit und breit denken mu?, das sch?nste fruchtbarste Erdreich wie im Tale des Regenflusses. Nun mu? man wieder an die Isar und sieht einen Durchschnitt und Abhang der Kieshügel, wohl hundertundfunfzig Fu? hoch. Ich gelangte nach Wolfrathshausen und erreichte den achtundvierzigsten Grad. Die Sonne brannte heftig, niemand traut dem sch?nen Wetter, man schreit über das b?se des vergehenden Jahres, man jammert, da? der gro?e Gott gar keine Anstalt machen will.
Nun ging mir eine neue Welt auf. Ich n?herte mich den Gebirgen, die sich nach und nach entwickelten.
Benediktbeuern liegt k?stlich und überrascht beim ersten Anblick. In einer fruchtbaren Fl?che ein lang und breites wei?es Geb?ude und ein breiter hoher Felsrücken dahinter. Nun geht es hinauf zum Kochelsee; noch h?her ins Gebirge zum Walchensee. Hier begrü?te ich die ersten beschneiten Gipfel, und auf meine Verwunderung, schon so nahe bei den Schneebergen zu sein, vernahm ich, da? es gestern in dieser Gegend gedonnert, geblitzt und auf den Bergen geschneit habe. Aus diesen Meteoren wollte man Hoffnung zu besserem Wetter sch?pfen und aus dem ersten Schnee eine Umwandlung der Atmosph?re vermuten. Die Felsklippen, die mich umgeben, sind alle Kalk, von dem ?ltesten, der noch keine Versteinerungen enth?lt. Diese Kalkgebirge gehen in ungeheuern ununterbrochenen Reihen von Dalmatien bis an den Sankt Gotthard und weiter fort. Hacquet hat einen gro?en Teil der Kette bereist. Sie lehnen sich an das quarz--und tonreiche Urgebirge.
Nach Walchensee gelangte ich um halb fünf. Etwa eine Stunde von dem Orte begegnete mir ein artiges Abenteuer: ein Harfner mit seiner Tochter, einem M?dchen von eilf Jahren, gingen vor mir her und baten mich, das Kind einzunehmen. Er trug das Instrument weiter, ich lie? sie zu mir sitzen, und sie stellte eine gro?e neue Schachtel sorgf?ltig zu ihren Fü?en. Ein artiges ausgebildetes Gesch?pf, in der Welt schon ziemlich bewandert. Nach Maria-Einsiedel war sie mit ihrer Mutter zu Fu? gewallfahrtet, und beide wollten eben die gr??ere Reise nach St. Jago von Compostell antreten, als die Mutter mit Tode abging und ihr Gelübde nicht erfüllen sollte. Man k?nne in der Verehrung der Mutter Gottes nie zuviel tun, meinte sie. Nach einem gro?en Brande habe sie selbst gesehen ein ganzes Haus niedergebrannt bis auf die untersten Mauern, und über der Türe hinter einem Glase das Muttergottesbild, Glas und Bild unversehrt, welches denn doch ein augenscheinliches Wunder sei. All ihre Reisen habe sie zu Fu?e gemacht, zuletzt in München vor dem Kurfürsten gespielt und sich überhaupt vor einundzwanzig fürstlichen Personen h?ren lassen. Sie unterhielt mich recht gut. Hübsche gro?e braune Augen, eine eigensinnige Stirn, die sich manchmal ein wenig hinaufw?rts faltete. Wenn sie sprach, war sie angenehm und natürlich, besonders wenn sie kindischlaut lachte; hingegen wenn sie schwieg, schien sie etwas bedeuten zu wollen und machte mit der Oberlippe eine fatale Miene. Ich sprach sehr viel mit ihr durch, sie war überall zu Hause und merkte gut auf die Gegenst?nde. So fragte sie mich einmal, was das für ein Baum sei. Es war ein sch?ner gro?er Ahorn, der erste, der mir auf der ganzen Reise zu Gesichte kam. Den hatte sie
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