Immensee | Page 7

Theodor W. Storm
sich nach seinem Tode in einen Goldfinken verwandelt?" fragte er heiter.
?Das pflegen die H?nflinge nicht," sagte die Mutter, welche spinnend im Lehnstuhl sa?. ?Ihr Freund Erich hat ihn heut' Mittag f��r Elisabeth von seinem Hofe hereingeschickt."
?Von welchem Hofe?"
?Das wissen Sie nicht?"
?Was denn?"
?Da? Erich seit einem Monat den zweiten Hof seines Vaters am Immensee [Fu?note: Der See der Immen, d. h. der Bienen.] angetreten hat?"
?Aber Sie haben mir kein Wort davon gesagt."
?Ei," sagte die Mutter, ?Sie haben sich auch noch mit keinem Worte nach Ihrem Freunde erkundigt. Er ist ein gar lieber, verst?ndiger junger Mann."
Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Elisabeth hatte Reinhard den R��cken zugewandt und war noch mit dem Bau ihrer kleinen Laube besch?ftigt.
?Bitte, nur ein kleines Weilchen," sagte sie; ?gleich bin ich fertig."
Da Reinhard wider seine Gewohnheit nicht antwortete, so wandte sie sich um. In seinen Augen lag ein pl?tzlicher Ausdruck von Kummer, den sie nie darin gewahrt hatte.
?Was fehlt dir, Reinhard?" fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat.
?Mir?" sagte er gedankenlos und lie? seine Augen tr?umerisch in den ihren ruhen.
?Du siehst so traurig aus."
?Elisabeth," sagte er, ?ich kann den gelben
Vogel nicht leiden."
Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. ?Du bist so sonderbar," sagte sie.
Er nahm ihre beiden H?nde, die sie ruhig in den seinen lie?. Bald trat die Mutter wieder herein. Nach dem Kaffee setzte diese sich an ihr Spinnrad; Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre Pflanzen zu ordnen.
Nun wurden Staubf?den gez?hlt, Bl?tter und Bl��ten sorgf?ltig ausgebreitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen zwischen die Bl?tter eines gro?en Folianten gelegt.
Es war sonnige Nachmittagsstille; nur nebenan schnurrte der Mutter Spinnrad, und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards ged?mpfte Stimme geh?rt, wenn er die Ordnungen der Klassen der Pflanzen nannte oder Elisabeths ungeschickte Aussprache der lateinischen Namen korrigierte.
?Mir fehlt noch von neulich die Maiblume," sagte sie jetzt, als der ganze Fund bestimmt und geordnet war.
Reinhard zog einen kleinen wei?en Pergamentband aus der Tasche. ?Hier ist ein Maiblumenstengel f��r dich," sagte er, indem er die halbgetrocknete Pflanze herausnahm.
Als Elisabeth die beschriebenen Bl?tter sah, fragte sie: ?Hast du wieder M?rchen gedichtet?"
?Es sind keine M?rchen," antwortete er und reichte ihr das Buch.
Es waren lauter Verse, die meisten f��llten h?chstens eine Seite. Elisabeth wandte ein Blatt nach dem andern um; sie schien nur die ��berschriften zu lesen. ?Als sie vom Schulmeister gescholten war." ?Als sie sich im Walde verirrt hatten." ?Mit dem Osterm?rchen." ?Als sie mir zum erstenmal geschrieben hatte;" in der Weise lauteten fast alle.
Reinhard blickte forschend zu ihr hin, und indem sie immer weiter bl?tterte, sah er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Rot hervorbrach und es allm?hlich ganz ��berzog. Er wollte ihre Augen sehen, aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch am Ende schweigend vor ihn hin.
?Gib mir es nicht so zur��ck!" sagte er.
Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapsel. ?Ich will dein Lieblingskraut hineinlegen," sagte sie und gab ihm das Buch in seine H?nde.
Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der Morgen der Abreise. Auf ihre Bitte erhielt Elisabeth von der Mutter die Erlaubnis, ihren Freund an den Postwagen zu begleiten, der einige Stra?en von ihrer Wohnung seine Station hatte.
Als sie vor die Haust��r traten, gab Reinhard ihr den Arm; so ging er schweigend neben dem schlanken M?dchen her. Je n?her sie ihrem Ziele kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange Abschied nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen, etwas, wovon aller Wert und alle Lieblichkeit seines k��nftigen Lebens abh?nge, und doch konnte er sich des erl?senden Wortes nicht bewu?t werden. Das ?ngstigte ihn; er ging immer langsamer.
?Du kommst zu sp?t," sagte sie, ?es hat schon zehn geschlagen auf St. Marien."
Er ging aber darum nicht schneller. Endlich sagte er stammelnd:
?Elisabeth, du wirst mich nun in zwei Jahren gar nicht sehen--wirst du mich wohl noch eben so lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?"
Sie nickte und sah ihm freundlich ins Gesicht.
?Ich habe dich auch verteidigt;" sagte sie nach einer Pause.
?Mich? Gegen wen hattest du es n?tig?"
?Gegen meine Mutter. Wir sprachen gestern abend, als du weggegangen warst, noch lange ��ber dich. Sie meinte, du seiest nicht mehr so gut, wie du gewesen."
Reinhard schwieg einen Augenblick; dann aber nahm er ihre Hand in die seine, und indem er ihr ernst in ihre Kinderaugen blickte, sagte er:
?Ich bin noch eben so gut, wie ich gewesen bin; glaube du das nur fest! Glaubst du es, Elisabeth?"
?Ja," sagte sie.
Er lie? ihre Hand los und ging rasch mit ihr durch die letzte Stra?e. Je n?her ihm der Abschied kam, desto freudiger war sein Gesicht; er ging ihr fast zu schnell.
?Was hast du, Reinhard?" fragte sie.
?Ich habe ein Geheimnis, ein sch?nes!" sagte er und sah sie mit leuchtenden Augen an. ?Wenn ich nach zwei Jahren wieder da bin, dann sollst du es erfahren."
Mittlerweile hatten sie
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