ängstigte ihn; er ging immer langsamer.
„Du kommst zu spät," sagte sie, „es hat schon zehn geschlagen auf St.
Marien."
Er ging aber darum nicht schneller. Endlich sagte er stammelnd:
„Elisabeth, du wirst mich nun in zwei Jahren gar nicht sehen--wirst du
mich wohl noch eben so lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?"
Sie nickte und sah ihm freundlich ins Gesicht.
„Ich habe dich auch verteidigt;" sagte sie nach einer Pause.
„Mich? Gegen wen hattest du es nötig?"
„Gegen meine Mutter. Wir sprachen gestern abend, als du
weggegangen warst, noch lange über dich. Sie meinte, du seiest nicht
mehr so gut, wie du gewesen."
Reinhard schwieg einen Augenblick; dann aber nahm er ihre Hand in
die seine, und indem er ihr ernst in ihre Kinderaugen blickte, sagte er:
„Ich bin noch eben so gut, wie ich gewesen bin; glaube du das nur fest!
Glaubst du es, Elisabeth?"
„Ja," sagte sie.
Er ließ ihre Hand los und ging rasch mit ihr durch die letzte Straße. Je
näher ihm der Abschied kam, desto freudiger war sein Gesicht; er ging
ihr fast zu schnell.
„Was hast du, Reinhard?" fragte sie.
„Ich habe ein Geheimnis, ein schönes!" sagte er und sah sie mit
leuchtenden Augen an. „Wenn ich nach zwei Jahren wieder da bin,
dann sollst du es erfahren."
Mittlerweile hatten sie den Postwagen erreicht; es war noch eben Zeit
genug. Noch einmal nahm Reinhard ihre Hand. „Leb wohl!" sagte er,
„leb wohl, Elisabeth! Vergiß es nicht!"
Sie schüttelte mit dem Kopf. „Leb wohl!" sagte sie. Reinhard stieg
hinein, und die Pferde zogen an. Als der Wagen um die Straßenecke
rollte, sah er noch einmal ihre liebe Gestalt, wie sie langsam den Weg
zurückging.
* * * * *
EIN BRIEF
Fast zwei Jahre nachher saß Reinhard vor seiner Lampe zwischen
Büchern und Papieren in Erwartung eines Freundes, mit welchem er
gemeinschaftliche Studien übte. Man kam die Treppe herauf. „Herein!"
Es war die Wirtin. „Ein Brief für Sie, Herr Werner!" Dann entfernte sie
sich wieder.
Reinhard hatte seit seinem Besuch in der Heimat nicht an Elisabeth
geschrieben und von ihr keinen Brief mehr erhalten. Auch dieser war
nicht von ihr; es war die Hand seiner Mutter.
Reinhard brach und las, und bald las er folgendes:
„In Deinem Alter, mein liebes Kind, hat noch fast jedes Jahr sein
eigenes Gesicht: denn die Jugend läßt sich nicht ärmer machen. Hier ist
auch manches anders geworden, was Dir wohl erstan weh tun wird,
wenn ich Dich sonst recht verstanden habe.
„Erich hat sich gestern endlich das Jawort von Elisabeth geholt,
nachdem er in dem letzten Vierteljahr zweimal vergebens angefragt
hatte. Sie hatte sich immer nicht dazu entschließen können; nun hat sie
es endlich doch getan; sie ist auch noch gar zu jung. Die Hochzeit wird
bald sein, und die Mutter wird dann mit ihnen fortgehen."
* * * * *
IMMENSEE
Wiederum waren Jahre vorüber.--Auf einem abwärts führenden
schattigen Waldwege wanderte an einem warmen
Frühlingsnachmittage ein junger Mann mit kräftigem, gebräuntem
Antlitz.
Mit seinen ernsten dunkeln Augen sah er gespannt in die Ferne, als
erwarte er endlich eine Veränderung des einförmigen Weges, die
jedoch immer nicht eintreten wollte. Endlich kam ein Karrenfuhrwerk
langsam von unten herauf.
„Hollah! guter Freund!" rief der Wanderer dem nebengehenden Bauer
zu, „geht's hier recht nach Immensee?"
„Immer gerad' aus," antwortete der Mann, und rückte an seinem
Rundhute.
„Hat's denn noch weit dahin?"
„Der Herr ist dicht davor. Keine halbe Pfeif' Tabak, so haben's den See;
das Herrenhaus liegt hart daran."
Der Bauer fuhr vorüber; der andere ging eiliger unter den Bäumen
entlang. Nach einer Viertelstunde hörte ihm zur Linken plötzlich der
Schatten auf; der Weg führte an einen Abhang, aus dem die Gipfel
hundertjähriger Eichen nur kaum hervorragten.
Über sie hinweg öffnete sich eine weite, sonnige Landschaft. Tief unten
lag der See, ruhig, dunkelblau, fast ringsum von grünen,
sonnenbeschienenen Wäldern umgeben; nur an einer Stelle traten sie
auseinander und gewährten eine tiefe Fernsicht, bis auch diese durch
blaue Berge geschlossen wurde.
Quer gegenüber, mitten in dem grünen Laub der Wälder, lag es wie
Schnee darüber her; das waren blühende Obstbäume, und daraus hervor
auf dem hohen Ufer erhob sich das Herrenhaus, weiß mit roten Ziegeln.
Ein Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam über dem
Wasser.
„Immensee!" rief der Wanderer.
Es war fast, als hätte er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht, denn er
stand unbeweglich und sah über die Gipfel der Bäume zu seinen Füßen
hinüber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses leise
schaukelnd auf dem Wasser schwamm. Dann setzte er plötzlich seinen
Weg fort.
Es ging jetzt fast steil den Berg hinab, so daß die unten stehenden
Bäume wieder Schatten gewährten, zugleich aber die Aussicht auf den
See verdeckten, der nur zuweilen zwischen den Lücken der Zweige
hindurchblitzte.
Bald ging es wieder sanft empor, und nun verschwand
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