Das blieb auch, als er schon länger dagewesen, und als er Tag für Tag
immer wiedergekommen war. Wenn sie allein zusammensaßen,
entstanden Pausen, die ihm peinlich waren, und denen er dann ängstlich
zuvorzukommen suchte. Um während der Ferienzeit eine bestimmte
Unterhaltung zu haben, fing er an, Elisabeth in der Botanik zu
unterrichten, womit er sich in den ersten Monaten seines
Universitätslebens angelegentlich beschäftigt hatte.
Elisabeth, die ihm in allem zu folgen gewohnt und überdies lehrhaft
war, ging bereitwillig darauf ein. Nun wurden mehrere Male in der
Woche Exkursionen ins Feld oder in die Heide gemacht, und hatten sie
dann mittags die grüne Botanisierkapsel voll Kraut und Blumen nach
Hause gebracht, so kam Reinhard einige Stunden später wieder, um mit
Elisabeth den gemeinschaftlichen Fund zu teilen.
In solcher Absicht trat er eines Nachmittags ins Zimmer, als Elisabeth
am Fenster stand und ein vergoldetes Vogelbauer, das er sonst dort
nicht gesehen, mit frischem Hühnerschwarm besteckte. Im Bauer saß
ein Kanarienvogel, der mit den Flügeln schlug und kreischend nach
Elisabeths Finger pickte. Sonst hatte Reinhards Vogel an dieser Stelle
gehangen.
„Hat mein armer Hänfling sich nach seinem Tode in einen Goldfinken
verwandelt?" fragte er heiter.
„Das pflegen die Hänflinge nicht," sagte die Mutter, welche spinnend
im Lehnstuhl saß. „Ihr Freund Erich hat ihn heut' Mittag für Elisabeth
von seinem Hofe hereingeschickt."
„Von welchem Hofe?"
„Das wissen Sie nicht?"
„Was denn?"
„Daß Erich seit einem Monat den zweiten Hof seines Vaters am
Immensee [Fußnote: Der See der Immen, d. h. der Bienen.] angetreten
hat?"
„Aber Sie haben mir kein Wort davon gesagt."
„Ei," sagte die Mutter, „Sie haben sich auch noch mit keinem Worte
nach Ihrem Freunde erkundigt. Er ist ein gar lieber, verständiger junger
Mann."
Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Elisabeth hatte
Reinhard den Rücken zugewandt und war noch mit dem Bau ihrer
kleinen Laube beschäftigt.
„Bitte, nur ein kleines Weilchen," sagte sie; „gleich bin ich fertig."
Da Reinhard wider seine Gewohnheit nicht antwortete, so wandte sie
sich um. In seinen Augen lag ein plötzlicher Ausdruck von Kummer,
den sie nie darin gewahrt hatte.
„Was fehlt dir, Reinhard?" fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat.
„Mir?" sagte er gedankenlos und ließ seine Augen träumerisch in den
ihren ruhen.
„Du siehst so traurig aus."
„Elisabeth," sagte er, „ich kann den gelben
Vogel nicht leiden."
Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. „Du bist so sonderbar,"
sagte sie.
Er nahm ihre beiden Hände, die sie ruhig in den seinen ließ. Bald trat
die Mutter wieder herein. Nach dem Kaffee setzte diese sich an ihr
Spinnrad; Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre
Pflanzen zu ordnen.
Nun wurden Staubfäden gezählt, Blätter und Blüten sorgfältig
ausgebreitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen
zwischen die Blätter eines großen Folianten gelegt.
Es war sonnige Nachmittagsstille; nur nebenan schnurrte der Mutter
Spinnrad, und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards gedämpfte Stimme
gehört, wenn er die Ordnungen der Klassen der Pflanzen nannte oder
Elisabeths ungeschickte Aussprache der lateinischen Namen
korrigierte.
„Mir fehlt noch von neulich die Maiblume," sagte sie jetzt, als der
ganze Fund bestimmt und geordnet war.
Reinhard zog einen kleinen weißen Pergamentband aus der Tasche.
„Hier ist ein Maiblumenstengel für dich," sagte er, indem er die
halbgetrocknete Pflanze herausnahm.
Als Elisabeth die beschriebenen Blätter sah, fragte sie: „Hast du wieder
Märchen gedichtet?"
„Es sind keine Märchen," antwortete er und reichte ihr das Buch.
Es waren lauter Verse, die meisten füllten höchstens eine Seite.
Elisabeth wandte ein Blatt nach dem andern um; sie schien nur die
Überschriften zu lesen. „Als sie vom Schulmeister gescholten war."
„Als sie sich im Walde verirrt hatten." „Mit dem Ostermärchen." „Als
sie mir zum erstenmal geschrieben hatte;" in der Weise lauteten fast
alle.
Reinhard blickte forschend zu ihr hin, und indem sie immer weiter
blätterte, sah er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Rot
hervorbrach und es allmählich ganz überzog. Er wollte ihre Augen
sehen, aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch am Ende
schweigend vor ihn hin.
„Gib mir es nicht so zurück!" sagte er.
Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapsel. „Ich will dein
Lieblingskraut hineinlegen," sagte sie und gab ihm das Buch in seine
Hände.
Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der Morgen der Abreise.
Auf ihre Bitte erhielt Elisabeth von der Mutter die Erlaubnis, ihren
Freund an den Postwagen zu begleiten, der einige Straßen von ihrer
Wohnung seine Station hatte.
Als sie vor die Haustür traten, gab Reinhard ihr den Arm; so ging er
schweigend neben dem schlanken Mädchen her. Je näher sie ihrem
Ziele kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange
Abschied nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen, etwas, wovon aller
Wert und alle Lieblichkeit seines künftigen Lebens abhänge, und doch
konnte er sich des erlösenden Wortes nicht bewußt werden. Das
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