Immensee | Page 9

Theodor W. Storm
rechts und links
die Holzung; statt dessen streckten sich dichtbelaubte Weinhügel am
Wege entlang; zu beiden Seiten desselben standen blühende
Obstbäume voll summender wühlender Bienen. Ein stattlicher Mann in
braunem Überrock kam dem Wanderer entgegen. Als er ihn fast
erreicht hatte, schwenkte er seine Mütze und rief mit heller Stimme:
„Willkommen, willkommen, Bruder Reinhard! Willkommen auf Gut
Immensee!"
„Gott grüß' dich, [Fußnote: Dieser Gruß wird besonders in
Suddeutschland gebraucht.] Erich, und Dank für dein Willkommen!"
rief ihm der andere entgegen.

Dann waren sie zu einander gekommen und reichten sich die Hände.
„Bist du es denn aber auch?" sagte Erich, als er so nahe in das ernste
Gesicht seines alten Schulkameraden sah.
„Freilich bin ich's, Erich, und du bist es auch; nur siehst du fast noch
heiterer aus, als du schon sonst immer getan hast."
Ein frohes Lächeln machte Erichs einfache Züge bei diesen Worten
noch um vieles heiterer.
„Ja, Bruder Reinhard," sagte er, diesem noch einmal seine Hand
reichend, „ich habe aber auch seitdem das große Los gezogen; du weißt
es ja."
Dann rieb er sich die Hände und rief vergnügt: „Das wird eine
Überraschung! Den erwartet sie nicht, in alle Ewigkeit nicht!"
„Eine Überraschung?" fragte Reinhard. „Für wen denn?"
„Für Elisabeth."
„Elisabeth! Du hast ihr nicht von meinem Besuch gesagt?"
„Kein Wort, Bruder Reinhard; sie denkt nicht an dich, die Mutter auch
nicht. Ich hab' dich ganz im geheimen verschrieben, damit die Freude
desto größer sei. Du weißt, ich hatte immer so meine stillen Plänchen."
Reinhard wurde nachdenklich; der Atem schien ihm schwer zu werden,
je näher sie dem Hofe kamen.
An der linken Seite des Weges hörten nun auch die Weingärten auf und
machten einem weitläufigen Küchengarten Platz, der sich bis fast an
das Ufer des Sees hinabzog. Der Storch hatte sich mittlerweile
niedergelassen und spazierte gravitätisch zwischen den Gemüsebeeten
umher.
„Hollah!" rief Erich, in die Hände klatschend, „stiehlt mir der
hochbeinige Ägypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!"

Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen
Gebäudes, das am Ende des Küchengartens lag und dessen Mauern mit
aufgebundenen Pfirsich- und Aprikosenbäumen überzweigt waren.
„Das ist die Spritfabrik," sagte Erich; „ich habe sie erst vor zwei Jahren
angelegt. Die Wirtschaftsgebäude hat mein seliger Vater neu aussetzen
lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Großvater gebaut worden.
So kommt man immer ein bißchen weiter."
Sie waren bei diesen Worten auf einen geräumigen Platz gekommen,
der an den Seiten durch die ländlichen Wirtschaftsgebäude, im
Hintergrunde durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide
Flügel sich eine hohe Gartenmauer anschloß; hinter dieser sah man die
Züge dunkler Taxuswände und hin und wieder ließen Syringenbäume
ihre blühenden Zweige in den Hofraum hinunterhängen.
Männer mit sonnen- und arbeitsheißen Gesichtern gingen über den
Platz und grüßten die Freunde, während Erich dem einen oder dem
andern einen Auftrag oder eine Frage über ihr Tagewerk entgegenrief.
Dann hatten sie das Haus erreicht. Ein hoher, kühler Hausflur nahm sie
auf, an dessen Ende sie links in einen etwas dunkleren Seitengang
einbogen.
Hier öffnete Erich eine Tür, und sie traten in einen geräumigen
Gartensaal, der durch das Laubgedränge, welches die
gegenüberliegenden Fenster bedeckte, zu beiden Seiten mit grüner
Dämmerung erfüllt war; zwischen diesen aber ließen zwei hohe, weit
geöffnete Flügeltüren den vollen Glanz der Frühlingssonne hereinfallen
und gewährten die Aussicht in einen Garten mit gezirkelten
Blumenbeeten und hohen steilen Laubwänden, geteilt durch einen
geraden, breiten Gang, durch welchen man auf den See und weiter auf
die gegenüberliegenden Wälder hinaussah.
Als die Freunde hineintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von
Duft entgegen.
Auf einer Terrasse vor der Gartentür saß eine weiße, mädchenhafte

Frauengestalt. Sie stand auf und ging den Eintretenden entgegen; auf
halbem Wege blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Fremden
unbeweglich an. Er streckte ihr lächelnd die Hand entgegen.
„Reinhard!" rief sie, „Reinhard! Mein Gott, du bist es!--Wir haben uns
lange nicht gesehen."
„Lange nicht," sagte er und konnte nichts weiter sagen; denn als er ihre
Stimme hörte, fühlte er einen feinen körperlichen Schmerz am Herzen,
und wie er zu ihr aufblickte, stand sie vor ihm, dieselbe leichte zärtliche
Gestalt, der er vor Jahren in seiner Vaterstadt Lebewohl gesagt hatte.
Erich war mit freudestrahlendem Antlitz an der Tür zurückgeblieben.
„Nun, Elisabeth?" sagte er; „gelt! den hättest du nicht erwartet, den in
alle Ewigkeit nicht!"
Elisabeth sah ihn mit schwesterlichen Augen an.
„Du bist so gut, Erich!" sagte sie.
Er nahm ihre schmale Hand liebkosend in die seinen. „Und nun wir ihn
haben," sagte er, „nun lassen wir ihn so bald nicht wieder los. Er ist so
lange draußen gewesen; wir wollen ihn wieder heimisch machen.
Schau nur, wie fremd und vornehm aussehend er worden ist!"
Ein scheuer Blick Elisabeths streifte Reinhards Antlitz. „Es ist nur die
Zeit, die wir nicht beisammen waren," sagte er.
In diesem Augenblick kam die Mutter, mit einem Schlüsselkörbchen
am Arm,
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