Immensee | Page 6

Theodor W. Storm
mitgeholfen hat; dieselbe Person hat die Manschetten für
Dich gestickt. Bei uns wird es nun am Weihnachtsabend sehr still
werden; meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in
die Ecke; es ist gar so einsam diesen Winter, wo Du nicht hier bist.
„Nun ist auch vorigen Sonntag der Hänfling gestorben, den Du mir
geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich hab' ihn doch immer
gut gewartet.
„Der sang sonst immer nachmittags, wenn die Sonne auf sein Bauer
schien; Du weißt, die Mutter hing so oft ein Tuch über, um ihn zu
geschweigen, wenn er so recht aus Kräften sang.
„Da ist es nun noch stiller in der Kammer, nur daß Dein alter Freund
Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest uns einmal, er sähe seinem
braunen Überrock ähnlich. Daran muß ich nun immer denken, wenn er
zur Tür hereinkommt, und es ist gar zu komisch; sag es aber nicht zur
Mutter, sie wird dann leicht verdrießlich.
„Rat, was ich Deiner Mutter zu Weihnachten schenke! Du rätst es nicht?
Mich selber! Der Erich zeichnet mich in schwarzer Kreide; ich habe
ihm dreimal sitzen müssen, jedesmal eine ganze Stunde.
„Es war mir recht zuwider, daß der fremde Mensch mein Gesicht so
auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir zu;
sie sagte, es würde der guten Frau Werner eine gar große Freude
machen.
„Aber Du hältst nicht Wort, Reinhard. Du hast keine Märchen
geschickt. Ich habe Dich oft bei Deiner Mutter verklagt; sie sagt dann
immer, Du habest jetzt mehr zu tun, als solche Kindereien. Ich glaub' es

aber nicht; es ist wohl anders."
Nun las Reinhard auch den Brief seiner Mutter, und als er beide Briefe
gelesen und langsam wieder zusammengefaltet und weggelegt hatte,
überfiel ihn ein unerbittliches Heimweh. Er ging eine Zeitlang in
seinem Zimmer auf und nieder: er sprach leise und dann
halbverständlich zu sich selbst:
Er wäre fast verirret Und wußte nicht hinaus; Da stand das Kind am
Wege Und winkte ihm nach Haus.
Dann trat er an sein Pult, nahm einiges Geld heraus und ging wieder
auf die Straße hinab. Hier war es mittlerweile stiller geworden; die
Weihnachtsbäume waren ausgebrannt, die Umzüge der Kinder hatten
aufgehört. Der Wind fegte durch die einsamen Straßen; Alte und Junge
saßen in ihren Häusern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen.
Als Reinhard in die Nähe des Ratskellers kam, hörte er aus der Tiefe
herauf Geigenstrich und den Gesang des Zithermädchens; nun klingelte
unten die Kellertür, und eine dunkle Gestalt schwankte die breite, matt
erleuchtete Treppe herauf.
Reinhard trat in den Häuserschatten und ging dann rasch vorüber. Nach
einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers, und
nachdem er hier ein kleines Kreuz mit roten Korallen eingehandelt
hatte, ging er auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder
zurück.
Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein kleines, in klägliche
Lumpen gehülltes Mädchen an einer hohen Haustür stehen, in
vergeblicher Bemühung, sie zu öffnen.
„Soll ich dir helfen?" sagte er.
Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die schwere Türklinke fahren.
Reinhard hatte schon die Tür geöffnet.

„Nein," sagte er, „sie könnten dich hinausjagen; komm mit mir! ich
will dir Weihnachtskuchen geben."
Dann machte er die Tür wieder zu und faßte das kleine Mädchen an der
Hand, das stillschweigend mit ihm in seine Wohnung ging.
Er hatte das Licht beim Weggehen brennen lassen.
„Hier hast du Kuchen," sagte er und gab ihr die Hälfte seines ganzen
Schatzes in ihre Schürze, nur keine mit den Zuckerbuchstaben.
„Nun geh nach Haus und gib deiner Mutter auch davon."
Das Kind sah mit einem scheuen Blick zu ihm hinauf; es schien solcher
Freundlichkeit ungewohnt und nichts darauf erwidern zu können.
Reinhard machte die Tür auf und leuchtete ihr, und nun flog die Kleine
wie ein Vogel mit ihrem Kuchen die Treppe hinab und zum Hause
hinaus.
Reinhard schürte das Feuer in seinem Ofen an und stellte das bestaubte
Tintenfaß auf seinen Tisch; dann setzte er sich hin und schrieb und
schrieb die ganze Nacht Briefe an seine Mutter, an Elisabeth.
Der Rest der Weihnachtskuchen lag unberührt neben ihm; aber die
Manschetten von Elisabeth hatte er angeknöpft, was sich gar
wunderlich zu seinem weißen Flausrock ausnahm. So saß er noch, als
die Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben fiel und ihm
gegenüber im Spiegel ein blasses, ernstes Antlitz zeigte.
* * * * *
DAHEIM
Als es Ostern geworden war, reiste Reinhard in die Heimat. Am
Morgen nach seiner Ankunft ging er zu Elisabeth.
„Wie groß du geworden bist," sagte er, als das schöne, schmächtige
Mädchen ihm lächelnd entgegenkam. Sie errötete, aber sie erwiderte
nichts; ihre Hand, die er beim Willkommen in die seine genommen,

suchte sie ihm sanft zu entziehen. Er sah sie zweifelnd an, das hatte sie
früher nicht getan; nun war es, als trete etwas Fremdes zwischen sie.
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