Im Schatten der Titanen | Page 4

Lily Braun
Bis zu seinem dreizehnten Jahre blieb es bei der Mutter,
während schon der Stern Napoleons immer leuchtender aufging über
der Welt. Als dann das Kollegium von Juilly den jungen Jerome
aufnahm, war er nicht ein neuer, fremder Schüler wie andere, sondern
der Bruder des großen Napoleon, dessen Triumphe jedes französische
Herz höher schlagen machten; Lehrer und Kameraden, stolz, einen
desselben Blutes unter sich zu haben, begegneten ihm mit liebevoller
Bewunderung.[1]
Von den Ferien in Paris bei Frau Lätitia in der Rue de Rocher oder in
dem kleinen Hause in der Rue Chantereine, wo Josephine ihn mit
Zeichen der Güte und Verwöhnung überschüttete,[2] kehrte er, erfüllt

von Schlachtenbildern und Siegeshymnen, in die Schule zurück. Und
welche Gefühle des Stolzes und der Begeisterung, welche Träume von
Ruhm und Glanz mußten den Fünfzehnjährigen bewegen, als Napoleon,
von seinem ägyptischen Märchenzuge heimkehrend, das jubelnde
Frankreich durchzog. Dieser Soldat von 30 Jahren, der Österreich
unterworfen, England erschüttert, Venedig gedemütigt und Italien
erobert hatte, war sein Bruder! Europa zitterte vor ihm; vor Jerome aber
wandelte sich der ernste Heros zum zärtlichen der Väter. Unter der
Wohnung des ersten Konsuls wurden dem Knaben seine Zimmer
angewiesen. Er erfreute sich hier der vollkommensten Freiheit, und
selbst alte, graue Männer, die Napoleons Zärtlichkeit für den jungen
Bruder sahen, beugten den Nacken vor ihm.[3] Seine Wünsche blieben
selten unerfüllt; zwischen einer Familie, die immer bereit war, seine
Streiche zu verzeihen, und einem Hof, dessen ständiges Amüsement sie
waren, konnte Jerome seinen Phantasien freien Lauf lassen.[4] Er war
schön und graziös, voll sprühenden Temperaments und lachenden
Leichtsinns; alles Schöne entzückte ihn, und sein Bedürfnis, das Glück,
sein Lebenselement, überall um sich zu fühlen, machte ihn
verschwenderisch, wenn es galt, Freunde zu erfreuen, Unglücklichen
beizustehen. Ein liebenswürdiges Glückskind -- so erschien er auf den
ersten Blick. Er wäre es gewesen, wenn nicht jene allzu häufige
Begleiterscheinung der Güte -- Schwäche denen gegenüber, die er
liebte -- und die Familieneigenschaften der Bonaparte --trotziger Stolz
und verzehrender Ehrgeiz -- der lichten Helligkeit seines Bildes die
tiefen Schatten hinzugefügt hätten. Zwei seiner Jugenderlebnisse sind
bezeichnend für diese Seiten seines Charakters.
Mit fünfzehn Jahren kannte er keinen heißeren Wunsch, als Napoleon
in den italienischen Feldzug zu begleiten. Seine Freundschaft für seinen
Spielkameraden Eugen Beauharnais verwandelte sich in einen nie ganz
überwundenen Haß, als der Wunsch diesem, dem älteren, gewährt, ihm
aber abgeschlagen wurde. Er blieb teilnahmlos und finster angesichts
der Siegesnachrichten und war der einzige, der den heimkehrenden
Sieger zu begrüßen sich weigerte und, von ihm aufgesucht, all seiner
Zärtlichkeit gegenüber eisig blieb. "Was soll ich tun, um dich zu
versöhnen?" fragte lächelnd der Held den jungen Trotzkopf. "Den
Säbel von Marengo schenke mir!" rief dieser. Sein Wunsch ward erfüllt,

und unzertrennlich blieb er bis zum Tode von der Waffe des
Bruders.[5]
Ein Jahr später wurde er Soldat; im gleichen Regiment diente der
Bruder Davouts. Auch dessen Brust schwellte der Stolz, und er
begegnete dem Kameraden hochmütiger als dieser ihm. Einer von uns
ist zuviel in der Welt -- dieser Gedanke beherrschte Jerome mehr und
mehr. Er forderte Davout zum Duell, einem Duell ohne Zeugen bis zur
Abfuhr. Sein Gegner schoß ihn in den Unterleib, wo die Kugel sich an
einem Knochen platt drückte und dort liegen blieb, bis sie sechzig Jahre
später bei der Autopsie der Leiche gefunden wurde.[6] Schon damals
also schien jene dunkle Prophezeiung sich zu bewahrheiten: daß kein
Bonaparte von einer Kugel fällt -- jene Prophezeiung, die ein
Unterpfand des Glücks zu sein schien, und deren Erfüllung schließlich
das Unglück erst vollenden half!
Inzwischen hatte Europa sich merkwürdig verwandelt: als wäre die
Alte Welt nichts als weiche, gefügige Masse in der Hand des
Bildhauers Napoleon. Er allein war es aber auch, der die Stelle zuerst
empfand, wo sie seiner Absicht harten Widerstand leistete. Das
britische Inselreich mit seiner meerbeherrschenden Macht war das
Gespenst, das er drohend vor sich sah und nicht zu fassen vermochte.
Darum setzte er alle Kräfte daran, die französische Flotte auszubauen
und kriegstüchtig zu machen, darum suchte er für die Marine sorgfältig
die besten Männer aus. Seine Liebe zu Jerome, seine große Meinung
von den Fähigkeiten des Bruders konnte er nicht besser beweisen als
dadurch, daß er ihn zum künftigen Admiral bestimmte. Hier, so glaubte
er, sollte seine tollkühne Tapferkeit und seine Abenteuerlust das rechte
Feld finden. "Nur auf dem Meere," so schrieb er an Jerome, "ist heute
noch Ruhm zu erwerben. Lerne was Du irgend kannst, dulde nicht, daß
irgend jemand es Dir zuvortut, suche Dich bei allen Gelegenheiten
auszuzeichnen. Denke daran, daß die Marine Dein Beruf sein soll."[7]
Mit erstaunlicher Leichtigkeit fand sich der verwöhnte siebzehnjährige
Jüngling in den anstrengenden Schiffsdienst, den ihm der
Konteradmiral Gauteaume auf Napoleons ausdrücklichen Befehl
auferlegte. Die Flotte, die dieser im Verein mit Salmgunt zu befehligen
hatte, war für Ägypten bestimmt; die Ungeschicklichkeit der Führer

machte die Expedition zu einer völlig zwecklosen. Jerome entgingen
die
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