Im Schatten der Titanen | Page 3

Lily Braun
mehr vielleicht bin ich ihrem Vater die Veröffentlichung
schuldig: nicht nur, daß sie seines Blutes war, zeigt sich darin, sondern
auch, daß er es wert gewesen ist, diese Tochter zu besitzen.
Sein Name hat in Deutschland keinen guten Klang: der widerlichste
Klatsch, dessen Geifer zur Höhe eines Napoleon, auch als er ein
gestürzter Riese war, nicht heraufreichte, hielt sich dafür an seinen
Brüdern und Schwestern schadlos. Halb Wüstling -- halb Schwachkopf
-- so lebt Jerome in der Tradition der Nachkommen jener Deutschen,
die sich zu seinem Hofe drängten, die von seiner allzu freigebigen
Hand Titel und Würden, Vermögen und Grundbesitz dankbar
entgegennahmen. Seine Briefe an meine Großmutter haben mich
veranlaßt, ihn selbst in seinen Memoiren und seinem Briefwechsel,
seine Familie, seine Zeitgenossen und die objektive
Geschichtschreibung zu Rate zu ziehen, um seine wahre Erscheinung
dadurch kennen zu lernen. Nur sehr wenig sieht sie der traditionellen
gleich. Das auch vor der Öffentlichkeit festzustellen, das Bild seiner
Persönlichkeit zu reinigen von dem Schmutz, mit dem man es
beworfen hat, es in seiner Güte und Liebenswürdigkeit, wie in seiner
erschütternden Tragik auferstehen zu lassen -- wurde mir zum
Herzensbedürfnis. Und da es stets einer der schönsten Züge meiner
Großmutter gewesen ist, der Verleumdung zu steuern, wo sie ihr
begegnete, glaube ich um so mehr in ihrem Sinne zu handeln, wenn ich
in diesem Buche der Schilderung ihres Vaters Raum gewähre.
Unklar mußte leider das Bild ihrer Mutter bleiben. Wie sie auf jedem
ihrer Porträte eine andere ist, so ist auch ihr Wesen nicht festzuhalten.
Die Geliebte Jeromes wurde als ein so dunkler Fleck in der
Familiengeschichte betrachtet, daß man versuchte, ihn so sehr als
möglich zu verwischen. Ihr letzter Brief an ihre Tochter ist das einzige

persönliche Zeichen ihres Daseins, das mir erhalten blieb. Was sonst
wohl vorhanden sein mag, schläft wahrscheinlich unter dem strengen
Schutze der Prüderie in Rumpelkammern und Familienarchiven den
Schlaf des Todes. Auch die anderen Briefe, die ich dem Buch neu
einverleiben konnte, sind an Umfang geringer, als es unter anderen
Umständen hätte sein können. Sehr vieles mag der Vernichtung
anheimgefallen sein, und die verschlossenen Familienschreine und
fürstlichen Hausarchive, wo sich z. B. die Briefe an die Kaiserin
Augusta, an die Herzogin von Orleans, an den Großherzog Karl
Alexander und an andere finden dürften, öffnen sich mir nicht mehr.
Wo es geschah -- was ich nicht unterlassen will, dankbar zu erwähnen
--, wie im Goethe-Schiller-Archiv und im Familienarchiv der
Bonapartes, hat sich nichts gefunden.
* * * * *
Für eine Zeit, wie die unsere, die ihrer selbst in all ihrer verständigen
Nüchternheit überdrüssig wurde, ist es charakteristisch, daß sie der
Vergangenheit nachspürt, verborgene Schätze wieder ans Licht
befördert, Toten neues Leben einflößt und ewig lebendige, die für sie
lange verschollen waren, wieder auf sich wirken läßt. Viele sehen
nichts anderes darin als ein Zeichen der Dekadenz, des Absterbens,
weil es an alte Menschen erinnert, die mit steigenden Jahren immer
mehr in der Erinnerung leben. Mir scheint, daß es vielmehr ein Zeichen
neuen, werdenden Lebens ist, dem freilich, wie immer im Herbst, ein
Absterben des alten vorangehen muß. Denn Sehnsucht drückt sich aus
darin, und Sehnsucht ist immer etwas Junges, dem Erfüllung folgen
muß. Diese Sehnsucht aber möchte dieses Buch nähren.

Aus Bonapartes Stamm

Jerome Napoleon
Wo alte Linden ihre Kronen breit und stolz gen Himmel wölben, ihre
weit ausladenden Äste nach allen Richtungen auseinanderstrecken, da

hat nicht nur die innere Lebenskraft sie zu so vollkommener
Entwicklung befähigt, da hat die Natur ihnen auch den freien Raum
gewährt, der solches Wachsen ermöglicht. Ihre jüngeren Geschwister
und ihre Nachkommen erreichen niemals die Höhe und Stärke der
Großen über ihnen: sie genießen ihres Schutzes, sie atmen dieselbe Luft;
der Blütenreichtum, den der Sturm abweht von denen da droben, fällt
duftend auf ihre jungen Häupter, aber mit ihrem vollen Strahlenkranz
krönt sie die Sonne nicht -- im Dämmer stehen sie, im Schatten der
Titanen. Und das Zeichen ihres Lebens im Schatten verlieren die
Epigonen nie ...
Am 9. November des Jahres 1784, einem rauhen Spätherbsttage,
brachte Lätitia Bonaparte das letzte ihrer zwölf Kinder zur Welt:
Jerome. Fünfzehn Jahre früher, als die Hochsommersonne über Ajaccio
brannte und Herz und Geist der blühend schönen jungen Frau erfüllt
war von den Kämpfen um Korsikas Freiheit, die sie, hoch zu Roß,
ihrem Gatten zur Seite, das schlummernde Leben in ihrem Schoß,
mitgekämpft hatte, war ihr zweiter Sohn geboren worden: Napoleon.
Ihn trieb der strenge Vater und das rauhe Schicksal früh aus dem
Schutz des Elternhauses; arm und unbekannt mußte er sich schon als
Knabe aus eigener Kraft die Stellung schaffen. Anders Jerome. Sein
Vater starb, als er ein Jahr alt war; seine Mutter, seine Geschwister,
allen voran der ernste Bruder, der, als sei es selbstverständlich, an
Stelle des Oberhauptes trat, umgaben das reizende Kind mit den
zierlichen Gliedern und den großen lachenden Augen mit zärtlicher
Liebe.
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