IMAGINÄRE BRÜCKEN | Page 6

Jakob Wasserman
Welt seinem Ich einzuverleiben. Das eigentliche Problem des Besitzes gipfelt im Problem der Identit?t.
Formaler Besitz, Gewohnheitsbesitz, Rechtsbesitz sind ?u?erliche Regelungen und Festsetzungen, soziale Dringlichkeiten. In Wahrheit erringe ich den Besitz einer Sache, wenn ich sie mir einverleibt habe. Es gibt kein anderes Mittel zur Einverleibung als die Liebe.
So w?re also auch die Liebe ein Problem der Identit?t? In der Tat scheint es mir so zu sein. Setze ich an die Stelle des Begriffes ?Welt? den Begriff ?Du?, so habe ich das Problem der Liebe, das Problem alles Eros: aus einem Du ein Ich, aus einem Ich ein Du machen. Es ist die h?chste erreichbare Stufe des Besitzes, und deshalb hat auch die Dichtung kein anderes Wort dafür als: einander besitzen.
Um aber das Allt?gliche des Gegenstandes nicht zu früh aus dem Auge zu verlieren, so wird man einwenden, es hei?e doch viel gefordert von der Spannweite und dem Liebesverm?gen der menschlichen Psyche, wenn man ihr zumutet, da? sie sich mit allen den Dingen erotisch verschmelzen soll, die unentbehrlich sind zum Aufbau und zur Entwicklung der Existenz, all den Krücken und Behelfen, den Bindungen und Füllseln, deren Bestimmung es ist, aufgenommen und wieder weggeworfen, erprobt und wieder beseitigt zu werden, auch dem Seltenen und Kostbaren schlie?lich, das bei besserer Einsicht und vermehrter Freiheit dem noch Selteneren und Kostbareren weichen oder bei herabgedrückten Umst?nden abermals dem Geringeren Raum geben mu?.
Darauf ist zu erwidern, da? das durchaus eine Angelegenheit des subjektiven Kr?fteverh?ltnisses und der individuellen Phantasief?higkeit ist. Ich kenne Leute, denen es, bei offenbarer Wohlh?bigkeit, eine gewisse überwindung kostet, sich von einem Paar abgetragener Stiefel zu trennen, wie es andere Leute gibt, die ohne den mindesten Skrupel einen teuern Menschen von sich sto?en, wenn es ihr Vorteil erheischt. Es kann sogar ein und dieselbe Person sein, die beides zu tun imstande ist. An Dingen Haftende sind gew?hnlich nicht solche, die für Menschen glühen oder für Menschliches sich einsetzen, und andererseits hat die Hingegebenheit an den Geist oft eine wunderbare Liebe für das Ding zur Folge. Die universalen Seelen, wie Goethe eine war, verm?gen mit ihrer Liebe ein ganzes Universum zu umschlie?en, den Stein, die Blume, die Sterne, die Werke der Künstler, die Menschheit, den Teufel und Gott; die engen Herzen müssen mit ihrem beschr?nkten Platz wirtschaften, und wenn es dann noch an Harmonie und Gabe der Sublimierung fehlt, geht alles drunter und drüber, und das Wesenlose rangiert neben dem Wesenhaften, zum Beispiel Rententitres neben Philosophie und Musik. Man ist geneigt, darin Lüge und Verlogenheit zu sehen, es ist aber meist nur Enge und wegen der Enge Verwechslung und Verwirrung.
In meiner Jugend war ich sehr arm, aber ich liebte alle Dinge, die mir in sinnvoller Beziehung zu denen zu stehen schienen, welche sie besa?en. Ich liebte sie fast ebenso, als h?tte ich selbst sie besessen. In dem Ma?, als mir Besitz zuwuchs, so k?rglich dieses Ma? auch war, erlahmte die F?higkeit zu solcher Phantasieliebe, denn die von mir besessenen Dinge standen fordernd auf den Wegen zu den freien Dingen, sie entkr?fteten die Flügel, die im Fluge alles bedecken, sie ernüchterten die Augen, die im Traum alles an sich rei?en konnten, im Traum der Identit?t.
Keiner der besitzt, ist begierdelos und wunschlos. Nur der ist es, der wissend auf Besitz verzichtet. Aber es ist dies kein gesellschaftliches Ideal, sondern ein religi?ses, kein europ?isches, sondern ein orientalisches, kein sentimental-humanit?res, sondern ein unerbittlich-orthodoxes. Zu seiner Verwirklichung, sofern man überhaupt von der Verwirklichung eines Ideals reden kann, führt nicht das modern-kommunistische Diktat der Enteignung, sondern das mythisch-buddhistische der Ent?u?erung.
?Entdeckt habe ich diesen Weg zur Erwachung, und zwar: durch Aufl?sung von Bild und Begriff wird Bewu?tsein aufgel?st, durch Aufl?sung des Bewu?tseins wird Bild und Begriff aufgel?st, durch Aufl?sung von Bild und Begriff wird sechsfaches Reich aufgel?st, durch Aufl?sung des sechsfachen Reiches wird Berührung aufgel?st, durch Aufl?sung der Berührung wird Gefühl aufgel?st, durch Aufl?sung des Gefühls wird Durst aufgel?st, durch Aufl?sung des Durstes wird Anhangen aufgel?st, durch Aufl?sung des Anhangens wird Werden aufgel?st, durch Aufl?sen des Werdens wird Geburt aufgel?st, durch Aufl?sung der Geburt wird Alter und Tod aufgel?st, Schmerz und Jammer, Leiden, Trübsal und Verzweiflung gehn zugrunde, also kommt dieses gesamten Leidensstückes Aufl?sung zustande. Aufl?sung, Aufl?sung!?[1]
[Fu?note 1: Reden Gotamo Buddhos, übersetzt von Neumann.]

Faustina
Ein Gespr?ch. Geschrieben 1907
Vor Jahren hatte in einem geselligen Kreis, in dem ich damals verkehrte, die junge C. viel Aufsehen gemacht. Abk?mmling einer alten Adelsfamilie, hatte sie sich, kaum zwanzig Jahre alt, von dem Zwang und Drill ihrer Welt befreit, um, wie sie sich ausdrückte, ?selbst? zu leben. Die Ungebundenheit ihrer Lebensführung war in der Tat erstaunlich. Eine Zeitlang k?mpfte sie im gr??ten Elend; pl?tzlich ging sie zum Theater, dort heiratete sie einen Schauspieler, von dem sie sich nach dreimonatlicher Ehe wieder trennte. Um Geld zu verdienen, übersetzte sie mittelm??ige Romane aus dem Franz?sischen. Eines Tages hie? es, sie sei mit einem reichen Brasilianer verlobt und mit ihm in
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