Hinzelmeier | Page 3

Theodor W. Storm
die Gestalten der Schlangen und Eidechsen in der braunen
Laubgirlande, welche sich an den Kanten hinunterzog, auf und ab
raschelten, ja mitunter sogar die geschmeidigen Köpfe auf den
Goldgrund der Tür hinüberreckten. Dies alles beschäftigte den Knaben
so, daß er nun erst die schöne Frau Abel und ihren Eheherrn bemerkte,
welche mit geneigtem Haupte vor dem Schreine niedergekniet waren.
Unwillkürlich hielt er den Atem an, um nicht bemerkt zu werden; und
nun hörte er die Stimmen seiner Eltern in leisem Gesange:
Rinke, ranke, Rosenschein, Tu dich auf, du goldner Schrein! Tu dich
auf und schließ uns ein, Rinke, ranke, Rosenschein!
Während des Gesanges erstarrte in dem Laubwerk das Leben des
Gewürmes; die goldenen Türen gingen langsam auf und zeigten in dem
Innern des Schrankes einen kristallenen Becher, in welchem eine
halberschlossene Rose auf schlankem Schafte stand. Allmählich öffnete
sich der Kelch; weiter und weiter, bis eins der schimmernden Blätter
sich ablöste und zwischen die Knieenden hinabfiel. Ehe es aber den
Boden erreichte, zerstob es klingend in der Luft und füllte das Gemach
mit rosenrotem Nebel. Ein starker Rosenduft quoll durch das
Schlüsselloch; der Knabe preßte sein Auge an die Öffnung, aber er
gewahrte nichts, als dann und wann ein Leuchten, das in der roten
Dämmerung aufbrach und wieder verschwand. Nach einer Weile hörte
er Schritte an der Tür; er wollte aufspringen, aber ein heftiger Schmerz
an der Stirn raubte ihm die Besinnung.

Die Rose
Als Hinzelmeier aus der Betäubung erwachte, lag er in seinem Bette;
Frau Abel saß neben ihm und hielt seine Hand in der ihren. Sie lächelte,
da er die Augen zu ihr aufschlug und der Abglanz einer Rose lag auf
ihrem Antlitz. "Du hast zu viel erlauscht, um nicht noch mehr erfahren
zu müssen", sagte sie. "Nur darfst du für heute dein Bett nicht verlassen;
aber währenddessen will ich dir das Geheimnis deiner Familie mitteilen.
Du bist jetzt groß genug, um es zu wissen."
"Erzähle nur, Mutter", sagte Hinzelmeier und legte den Kopf zurück in
die Kissen; und dann erzählte Frau Abel:
"Weit von dieser kleinen Stadt liegt der uralte Rosengarten, von dem
die Sage geht, er sei am sechsten Schöpfungstage mit erschaffen
worden. Innerhalb seiner Mauer stehen tausend rote Rosenbüsche,
welche nie zu blühen aufhören; und jedes Mal, wenn in unserem
Geschlechte, welches in vielen Zweigen durch alle Länder der Welt
verbreitet, ein Kind geboren wird, springt eine neue Knospe aus den
Blättern. Jeder Knospe ist eine Jungfrau zur Pflegerin bestellt, welche
den Garten nicht verlassen darf, bis die Rose von dem geholt worden,
durch dessen Geburt sie entsprossen ist. Eine solche Rose, welche du
vorhin gesehen hast, besitzt die Kraft, ihren Eigentümer zeitlebens jung
und schön zu erhalten. Daher versäumt denn nicht leicht Jemand, sich
seine Rose zu holen; es kommt nur darauf an, den rechten Weg zu
finden; denn der Eingänge sind viele und oft verwunderliche. Hier führt
es durch einen dicht verwachsenen Zaun, dort durch ein schmales
Winkelpförtchen, mitunter"--und Frau Abel sah ihren Eheherrn, der
eben ins Zimmer trat, mit schelmischen Augen an--"mitunter auch
durch's Fenster!"
Herr Hinzelmeier lächelte und setzte sich neben das Bett seines Sohnes.
Dann erzählte Frau Abel weiter:
"Auf diese Weise wird die größte Zahl der Jungfrauen aus ihrer
Gefangenschaft erlöst und verläßt mit dem Besitzer der Rose den
Garten. Auch deine Mutter war eine Rosenjungfrau und pflegte
sechzehn Jahre lang die Rose deines Vaters. Wer aber an dem Garten

vorübergeht ohne einzukehren, der darf niemals dahin zurück; nur der
Rosenjungfrau ist es nach dreimal drei Jahren gestattet, in die Welt
hinaus zu gehen, um den Rosenherrn zu suchen und sich durch die
Rose aus der Gefangenschaft zu erlösen. Findet sie in dieser Zeit ihn
nicht, so muß sie in den Garten zurück und darf erst nach wiederum
dreimal drei Jahren noch einmal den Versuch erneuern; aber Wenige
wagen den ersten, fast Keine den zweiten Gang; denn die
Rosenjungfrauen scheuen die Welt und wenn sie ja in ihren weißen
Gewändern hinausgehen, so gehen sie mit niedergeschlagenen Augen
und zitternden Füßen; und unter hundert solcher Kühnen hat kaum eine
einzige den wandernden Rosenherrn gefunden. Für diesen aber ist dann
die Rose verloren; und während die Jungfrau zu ewiger Gefangenschaft
zurückgegangen ist, hat auch er die Gnade seiner Geburt verscherzt und
muß wie die gewöhnliche Menschheit kümmerlich altern und
vergehen.--Auch du, mein Sohn, gehörst zu den Rosenherren und
kommst du in die Welt hinaus, dann vergiß den Rosengarten nicht."
Herr Hinzelmeier neigte sich zur Frau Abel und küßte ihre seidenen
Haare; dann sagte er, freundlich des Knaben andere Hand ergreifend:
"Du bist jetzt groß genug! Möchtest du wohl in die Welt hinaus und
eine Kunst erlernen?"
"Ja", sagte Hinzelmeier, "aber es müßte eine große Kunst sein; so eine,
die sonst noch niemand hat erlernen können!"
Frau Abel schüttelte sorgenvoll den Kopf; der Vater aber sagte: "Ich
will dich zu einem weisen Meister bringen,
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