Hinzelmeier | Page 2

Theodor W. Storm
in das Zimmer des
Vaters ging. Wo er am Vormittag sein Schaukelpferd an den
messingenen Ofenknopf gebunden hatte. Nun hielt es ihn nicht länger,
er sprang durch den Korridor und ritt wie der Wind das
Treppengeländer hinab. Als er ins Zimmer trat, war es voller Rosenduft
und es schien ihm fast, als wäre seine Mutter selber eine Rose, so
leuchtend war ihr Antlitz. Hinzelmeier wurde ganz nachdenklich.
"Liebe Mutter", sagte er endlich, "weshalb gehst du denn immer durch

die Wand?"
Und als Frau Abel hierauf verstummte, sagte der Vater: "Ei nun, mein
Sohn, weil die anderen Leute immer durch die Tür gehen."
Das war dem Hinzelmeier schon einleuchtend; bald aber wollte er mehr
erfahren.
"Wohin gehst du denn, wenn du durch die Wand gehst", fragte er
weiter, "und wo sind die Rosen?"
Aber ehe er sich's versah, hatte der Vater ihn kopfüber aufs
Schaukelpferd gestülpt und die Mutter sang das schöne Lied:
"Hatto von Mainz und Poppo von Trier Ritten zusammen aus Lünebier;
Hatto hott hott! immer im Trott! Poppo hopp hopp! immer Galopp!
Eins, zwei, drei! Zelle vorbei; Eins, zwei, drei, vier! Nun sind wir
schon hier."
"Bind es los! bind es los!" rief Hinzelmeier; und der Vater band das
Rößlein vom Ofenknopf und die Mutter sang und der Reiter ritt hopp
hinauf und hopp hinab und hatte bald alle Rosen und weißen Wände in
der ganzen Welt vergessen.

Der Zipfel
Nun gingen manche Jahre hin, ohne daß Hinzelmeier eine
Wiederholung des Wunders erlebt hätte; er dachte daher auch überall
nicht mehr daran, obgleich seine Eltern jung und schön blieben, wie sie
es immer gewesen waren und oftmals auch im Winter der wunderbare
Rosenduft sie umgab.
In dem einsamen Korridor des oberen Stockwerks war Hinzelmeier
jetzt nur selten noch zu finden; denn die Katze war vor Alter gestorben
und so war seine Schule aus Mangel an Schülern von selber
eingegangen.

Es war ihm nun schon fast so, als müßte um einige Jahre der Bart zu
wachsen anfangen; da ging er eines Nachmittags wieder in den alten
Korridor hinauf, um die weißen Wände zu besichtigen, denn er wollte
auf den Abend das berühmte Schattenspiel "Nebukadnezar und sein
Nußknacker" zur Aufführung bringen. In dieser Absicht war er an das
Ende des Ganges gekommen und betrachtete die weiße Querwand von
oben bis unten, als er zu seiner Verwunderung den Zipfel eines
Schnupftuches daraus hervorhängen sah. Er bückte sich, um es genauer
zu betrachten; in der Ecke stand: 'A.H.'; das konnte nichts anderes
heißen als: 'Abel Hinzelmeier'; es war das Schnupftuch seiner Mutter.
Nun fing's in seinem Kopfe an zu schnurren und die Gedanken
arbeiteten rückwärts, weiter und weiter, bis sie bei dem ersten Kapitel
dieser Geschichte plötzlich Halt machten. Hierauf suchte er das
Schnupftuch aus der Wand herauszuziehen, was ihm auch nach einem
etwas schmerzhaften Experimente glücklich gelang; dann schlug er,
wie einst die schöne Frau Abel, dreimal mit dem Tuche gegen die
Wand; und "eins--zwei--drei--!" tat sie sich lautlos von einander,
Hinzelmeier schlüpfte hindurch und stand--wohin er am wenigsten zu
gelangen dachte--auf dem Hausboden. Aber es war nicht daran zu
zweifeln; dort stand der Urgroßmutterschrank mit den wackelköpfigen
Pagoden, daneben seine eigne Wiege und weiterhin das Schaukelpferd,
lauter ausgedientes Gerät; unter dem Balken längs an eisernen Haken
hingen wie immer des Vaters lange Mäntel und Reisekragen und
drehten sich langsam um sich selbst, wenn der Zug durch die offenen
Bodenluken hereinstrich. "Sonderbar!" sagte Hinzelmeier, "warum ging
die Mutter denn doch immer durch die Wand?" Da er indessen außer
den bekannten Gegenständen nichts bemerken konnte, so wollte er
durch die Bodentür wieder ins Haus hinabgehen. Allein die Tür war
nicht da. Er stutzte einen Augenblick und meinte anfänglich, sich nur
geirrt zu haben, weil er von einer anderen Seite, als gewöhnlich,
hinaufgelangt war. Er wandte sich daher und ging zwischen die Mäntel
durch nach dem alten Schranke, um sich von hier aus zurechtzufinden;
und richtig! dort gegenüber war die Tür; er begriff nicht, wie er sie
hatte übersehen können. Als er aber darauf zuging, erschien ihm
plötzlich wieder alles so fremd, daß er zu zweifeln begann, ob er auch
vor der rechten Tür stehe. Allein so viel er wußte, gab es hier keine
andere. Was ihn am meisten verwirrte, war, daß die eiserne Klinke

fehlte und auch der Schlüssel abgezogen war, der sonst immer
aufzustecken pflegte. Er legte daher sein Auge an das Schlüsselloch, ob
er vielleicht Jemanden auf der Treppe oder dem Vorplatz gewahren
könne, der ihn herabließe. Zu seinem Erstaunen sah er aber nicht auf
die dunkle Treppe, sondern in ein helles, geräumiges Zimmer, von
dessen Dasein er bisher keine Ahnung gehabt hatte.
In der Mitte desselben gewahrte er einen pyramidenförmigen Schrein,
der von zwei goldschimmernden Türen verschlossen und mit
wunderlicher Schnitzarbeit verziert war. Hinzelmeier wußte nicht recht,
ob das enge Schlüsselloch seinen Blick verwirrte, aber es war ihm fast,
als wenn
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