Helden | Page 8

George Bernard Shaw
seit achtundvierzig Stunden kein Auge

geschlossen.
Raina [am Ende ihrer Weisheit]: Aber was soll ich mit Ihnen anfangen?
Der Flüchtling [fährt taumelnd auf, von ihrer Verzweiflung
aufgestachelt]: Natürlich, ich muß etwas tun. [Er schüttelt sich, rafft
sich zusammen und spricht mit wiedergewonnener Kraft und Mut:]
Sehen Sie, schläfrig oder nicht schläfrig, hungrig oder nicht hungrig,
müde oder nicht müde--man kann eine Sache immer tun, wenn man
weiß, daß sie getan werden muß. Gut denn, die Dachrinne muß
hinabgeklettert werden. [Er schlägt sich mit der Faust an die Brust]:
Hörst du das, du Pralinésoldat?! [Er geht an das Fenster.]
Raina [ängstlich]: Aber wenn Sie stürzen?
Der Flüchtling: Dann werde ich schlafen, als ob das Pflaster ein
Federbett wäre. Leben Sie wohl. [Er tritt kühn an das Fenster und legt
seine Hand an den Laden, da ertönt unten auf der Straße wieder eine
entsetzliche Salve.]
Raina [zu ihm eilend]: Bleiben Sie! [Sie erfaßt ihn ohne Bedenken und
reißt ihn zurück.] Man wird Sie töten.
Der Flüchtling [kühl, aber aufmerksam]: Das macht nichts und gehört
eben zu meinem täglichen Beruf; ich muß es riskieren. [Entschlossen]:
Nun tun Sie, was ich Ihnen sage: löschen Sie die Kerzen aus, damit
man das Licht nicht sehen kann, wenn ich die Läden öffne, und halten
Sie sich ja vom Fenster fern, was immer auch geschehen mag. Wenn
die mich sehen, werden sie sicher nach mir schießen.
Raina [sich an ihn hängend]: Sie werden Sie ganz sicher sehen, der
Mond scheint hell. Ich will Sie retten,,, Oh, wie können Sie nur so
gleichgültig sein! Sie wollen doch, daß ich Sie retten soll, nicht wahr?
Der Flüchtling: Ich möchte Sie wirklich nicht länger stören. [Sie
schüttelt ihn in ihrer Ungeduld]: Ich bin durchaus nicht gleichgültig
gegen den Tod, verehrtes Fräulein, glauben Sie mir, aber was soll ich
sonst anfangen?
Raina: Vor allem kommen Sie doch vom Fenster fort, ich bitte Sie. [Sie
schmeichelt ihn in die Mitte des Zimmers zurück, er ergibt sich
unterwürfig darein; sie läßt ihn frei und spricht gönnerhaft zu ihm]:
Hören Sie, Sie müssen unserer Gastfreundschaft vertrauen; Sie wissen
noch nicht, in wessen Haus Sie sich befinden--ich bin eine Petkoff.
Der Flüchtling [naiv]: Was ist das?
Raina [etwas entrüstet]: Ich meine, daß ich der Familie Petkoff

angehöre, der reichsten und angesehensten unseres Landes.
Der Flüchtling: O ja, natürlich! Entschuldigen Sie--die Petkoffs!
freilich! Wie dumm von mir!
Raina: Sie wissen ganz gut, daß Sie bis zu dieser Minute den Namen
nie gehört haben! Wie können Sie sich dazu erniedrigen, so zu tun, als
ob er Ihnen bekannt vorkäme?
Der Flüchtling: Verzeihen Sie, ich bin zu müde, um zu denken, und der
Wechsel des Gesprächsthemas war zuviel für mich; zanken Sie mich
nicht aus.
Raina: Ich vergaß--Sie könnten zu weinen anfangen. [Er nickt ganz
ernst, sie schmollt und fährt dann in gönnerhaftem Tone fort]: Ich will
Ihnen bloß sagen, daß mein Vater den höchsten Befehlshaberposten in
unserer Armee bekleidet, den irgend ein Bulgare innehat. [Stolz]: Er ist
Major!
Der Flüchtling [tut, als ob das einen tiefen Eindruck auf ihn machte]:
Major? Du lieber Himmel! Denken Sie nur!
Raina: Sie haben große Ortsunkenntnis bewiesen, indem Sie es für
nötig hielten, am Balkon heraufzuklettern, weil unser Haus das einzige
Privathaus ist, das zwei Reihen Fenster hat. Es ist eine Treppe im Flur,
auf der man hinauf und hinunter kann.
Der Flüchtling: Eine Treppe? Wie großartig! Sie sind aber von
ungewöhnlichem Luxus umgeben, verehrtes Fräulein.
Raina: Wissen Sie, was eine Bibliothek ist?
Der Flüchtling: Eine Bibliothek? Ein Zimmer voll Bücher?
Raina: Ja, wir haben ein solches, das einzige in ganz Bulgarien.
Der Flüchtling: Wahrhaftig? Ein wirkliches Bibliothekzimmer? Das
möchte ich aber gerne sehen.
Raina [geziert]: Ich sage Ihnen diese Dinge bloß, um Ihnen zu zeigen,
daß Sie bei zivilisierten Leuten sind, nicht im Hause von ungebildeten
Bauern, die Sie töten würden, sobald sie Ihre serbische Uniform
gewahrten. Wir gehen jedes Jahr zur Opernsaison nach Bukarest, und
ich habe schon einen ganzen Monat in Wien zugebracht.
Der Flüchtling: Das habe ich bemerkt, gnädiges Fräulein; ich habe
sofort gesehen, daß Sie die Welt kennen.
Raina: Haben Sie jemals die Oper Hernani gehört?
Der Flüchtling: Ist das die, in der ein Soldatenchor und ein Teufel in
rotem Samt vorkommt?

Raina [verachtungsvoll]: Nein.
Der Flüchtling [einen tiefen Müdigkeitsseufzer unterdrückend]: Dann
kenne ich die Oper nicht.
Raina: Ich dachte, Sie würden sich vielleicht an die große Szene
erinnern, in der Hernani auf der Flucht vor seinen Feinden--gerade so
wie Sie heute nacht--in das Schloß seines erbittertsten Gegners, eines
alten kastilianischen Granden, flüchtet! Der Edelmann verweigert seine
Auslieferung, sein Gast ist ihm heilig!
Der Flüchtling [rasch, wacht wieder etwas auf]: Sind Ihre Angehörigen
auch dieser Ansicht?
Raina [mit Würde]: Meine Mutter und ich, wir verstehen diese
"Ansicht", wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie, statt mich mit Ihrer
Pistole zu bedrohen, sich einfach als Flüchtling unserer
Gastfreundschaft anvertraut hätten,
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