Helden | Page 9

George Bernard Shaw
Sie wären sicher gewesen wie in
Ihrem Vaterhaus.
Der Flüchtling: Ganz gewiß?
Raina [kehrt ihm angewidert den Rücken]: Oh, es ist verlorene Mühe,
Ihnen etwas begreiflich machen zu wollen!
Der Flüchtling: Bitte, seien Sie nicht böse, Sie können sich denken, wie
schlimm es für mich wäre, wenn da ein Irrtum vorläge. Mein Vater ist
ein sehr gastfreundlicher Mann, er hat sechs Hotels, aber ich könnte
ihm nicht so weit vertrauen. Wie ist es mit Ihrem Herrn Vater?
Raina: Er ist fort, in Slivnitza, um für sein Vaterland zu kämpfen. Ich
bürge für Ihre Sicherheit. Hier meine Hand darauf. Wird Sie das
beruhigen? [Sie bietet ihm ihre Hand.]
Der Flüchtling [sieht seine eigene Hand zweifelhaft an]: Es ist besser,
wenn Sie meine Hand nicht berühren, verehrtes Fräulein, ich muß mich
erst waschen.
Raina [gerührt]: Das ist nett von Ihnen. Ich sehe, Sie sind ein
Gentleman.
Der Flüchtling [verwundert]: Wieso?
Raina: Sie dürfen nicht glauben, daß ich überrascht bin--die Bulgaren
aus besseren Kreisen, Leute in unserer Stellung zum Beispiel, waschen
sich auch fast täglich die Hände--aber ich schätze Ihr Zartgefühl, Sie
dürfen meine Hand nehmen. [Bietet ihm abermals die Hand.]
Der Flüchtling [küßt ihr die Hand, seine Hände auf dem Rücken]: Ich
danke Ihnen, mein liebenswürdiges Fräulein. Endlich fühle ich mich

geborgen. Bitte, wollen Sie so gut sein und Ihre Frau Mutter von
meiner Anwesenheit bald benachrichtigen; es würde sich nicht
schicken, wenn ich hier länger als nötig im geheimen verweilte.
Raina: Wenn Sie sich ganz ruhig verhalten wollen, während ich weg
bin.
Der Flüchtling: Gewiß. [Er setzt sich auf die Ottomane, Raina geht an
das Bett, holt ihren Pelzmantel und wirft ihn um. Ihm fallen die Augen
zu, sie geht zur Tür, wirft einen letzten Blick nach ihm hin und sieht,
daß er im Begriff ist, einzuschlafen.]
Raina [an der Tür]: Sie werden jetzt doch nicht etwa einschlafen? [Er
murmelt unartikulierte Laute, sie läuft zu ihm hin und schüttelt ihn.]
Hören Sie? So wachen Sie doch auf--Sie schlafen ja ein!
Der Flüchtling: Was, ich schlafe ein? O nein, nicht im geringsten--ich
habe nur nachgedacht,,, es ist schon gut--ich bin ganz wach.
Raina [strenge]: Wollen Sie so gut sein, stehen zu bleiben, während ich
weg bin--ja? [Er erhebt sich widerwillig]: Die ganze Zeit über,
verstanden!
Der Flüchtling [unruhig wankend]: Gewiß, gewiß, Sie können sich
darauf verlassen. [Raina sieht ihn ungläubig an, er lächelt matt, sie geht
zögernd zur Tür, wo sie sich umwendet, und ihn fast beim Gähnen
ertappt. Sie geht ab.]
Der Flüchtling [schlaftrunken]: Schlafen, schlafen, schlafen, schlafen,
schla,,,--[Die Worte gehen in ein Murmeln über, er rafft sich wieder auf,
im Begriff umzufallen.] Wo bin ich? Das möchte ich gerne wissen,,, ich
muß wach bleiben,,, nichts hält mich aber wach außer Gefahr, bedenke
das--[Nachdrücklich]: Gefahr, Gefahr, Gefahr, Gef...--[Knickt wieder
zusammen, rüttelt sich abermals auf.] Wo ist Gefahr? Das muß ich
ausfindig machen,,, [Er geht unsicher umher, als wenn er nach Gefahr
suchte.] Was suche ich da?,,, Schlaf--Gefahr--ich weiß es nicht. [Er
strauchelt gegen das Bett zu.] Ach ja, nun weiß ich's,,, alles ist in
Ordnung, ich soll zu Bett gehen--aber nicht schlafen--ganz bestimmt
nicht schlafen,,, wegen der Gefahr. Auch nicht niederlegen, nur
niedersetzen. [Er setzt sich auf das Bett, sein Gesicht nimmt einen
glücklichen Ausdruck an]: Ah,,,[Mit einem freudigen Seufzer sinkt er
der Länge nach zurück, hebt mit einer letzten Anstrengung seine
gestiefelten Beine ins Bett und fällt sofort in tiefen Schlaf.]
[Katharina tritt ein, Raina folgt ihr.]

Raina [auf die Ottomane blickend]: Er ist fort, hier verließ ich ihn.
Katharina: Hier? Dann muß er hinuntergeklettert sein vom-Raina [ihn
erblickend]: Oh! [Sie zeigt auf ihn.]
Katharina [empört]: Ah! [Sie geht mit großen Schritten auf das Bett zu,
Raina folgt ihr und bleibt ihr gegenüber auf der andern Seite des Bettes
stehen.]Er ist fest eingeschlafen, dieser Unmensch!
Raina [ängstlich]: Scht!
Katharina [ihn schüttelnd]: Herr! [Ihn noch heftiger schüttelnd:] Herr!!
[Ihn außerordentlich stark schüttelnd:] Herr!!!
Raina [fällt ihr in den Arm]: Nicht, Mama, der arme Mann ist ganz
erschöpft, laß ihn schlafen.
Katharina [läßt ihn los und wendet sich erstaunt zu Raina]: Der arme
Mann! Raina! [Sieht ihre Tochter starr an, der Flüchtling schläft fest.]
[Vorhang]

ZWEITER AKT
[Am 6. März 1886. In dem frischen hübschen Garten von Major
Petkoffs Haus an einem schönen Frühlingsmorgen. Hinter dem Zaun
tauchen die Spitzen von zwei Minaretts auf, die Wahrzeichen einer
kleinen Stadt im Tal. Ein paar Meilen davon entfernt erheben sich die
Balkanberge und umschließen die Landschaft. Wenn man vom Garten
zu ihnen hinüberblickt, liegt zur Linken die Seite des Hauses, aus der
eine kleine Tür mit Stufen davor in den Garten führt. Rechts schneidet
der Stallhof mit seinem Torweg in den Garten ein. Den Zaun und das
Haus entlang stehen Beerensträucher, die mit zum Trocknen
ausgespannter Wäsche behängt sind. Ein kleiner Weg führt an dem
Hause vorbei; er führt zwei Stufen empor an die Ecke
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