Helden | Page 6

George Bernard Shaw
in der
Schlacht Patronen? Ich führe statt dessen immer Schokolade mit und
habe schon vor Stunden mein letztes Stück verzehrt.
Raina [in ihren heiligsten Vorstellungen von Männlichkeit verletzt]:
Schokolade? Sie stopfen Ihre Taschen mit Süßigkeiten voll wie ein
Schuljunge, selbst auf dem Schlachtfeld?
Der Flüchtling [hungrig]: Ich wollte, ich hätte jetzt welche. [Raina
starrt ihn an, unfähig ihre Gefühle zu äußern; dann läuft sie zu der
Kommode und eilt, die Bonbonniere in den Händen, mit spöttischer
Miene zurück.]
Raina: Erlauben Sie. Ich bedaure, alles aufgegessen zu haben bis auf
diese Pralinébonbons. [Sie bietet ihm die Schachtel an.]
Der Flüchtling [heißhungrig]: Sie sind ein Engel. [Er verschlingt die
Süßigkeiten]: Pralinés--köstlich! [Er überzeugt sich ängstlich, ob noch
mehr davon da sind; es waren die letzten.]
[Er fügt sich mit pathetischem Humor in das Unvermeidliche und sagt
mit dankbarer Rührung]: Gott segne Sie, teuerstes Fräulein.--Sie
können einen alten Soldaten immer an dem Inhalt seiner Sattel- und
Patronentaschen beurteilen. Die jungen führen Pistolen und Patronen
mit, die alten--Futter. Ich danke Ihnen. [Er gibt ihr die Schachtel zurück,
sie reißt sie ihm verachtungsvoll aus der Hand und wirft sie fort. Er
schrickt wieder zusammen, als wenn sie ihn hätte schlagen wollen.] Hu!
Ich beschwöre Sie, machen Sie nicht alles so heftig und plötzlich,
gnädiges Fräulein; es ist nicht schön, sich jetzt dafür zu rächen, daß ich
Sie vorhin erschreckt habe.
Raina [stolz]: Mich erschreckt! Wissen Sie, daß mein Herz, obwohl ich
nur ein Mädchen bin, mindestens ebenso mutig schlägt wie das Ihre!?

Der Flüchtling: Das will ich meinen. Sie haben auch nicht drei Tage
lang im Feuer gestanden wie ich. Zwei Tage kann ich das aushalten,
ohne daß es mir viel ausmacht, aber kein Mensch hält es drei Tage lang
aus. Ich bin jetzt so nervös wie eine Maus. [Er setzt sich auf die
Ottomane und stützt den Kopf in die Hand.] Möchten Sie mich weinen
sehen?
Raina [bestürzt]: Nein!
Der Flüchtling: Wenn Sie das wollen, brauchen Sie mich nur
auszuschelten als ob ich ein kleiner Bub wäre und Sie das
Kindermädchen. Wenn ich jetzt im Lager wäre, würde man allerhand
Spaß mit mir treiben.
Raina [ein wenig gerührt]: Sie tun mir leid, ich werde Sie nicht
ausschelten. [Von dem Mitgefühl in ihrer Stimme ergriffen, hebt er den
Kopf und blickt dankbar zu ihr auf. Sie wendet sich sofort von ihm weg
und sagt steif:] Sie müssen mich entschuldigen, UNSERE Soldaten
sind eben ganz anders. [Sie geht von der Ottomane fort.]
Der Flüchtling: O nein, ganz ebenso! Es gibt überhaupt nur zweierlei
Arten Soldaten; junge und alte. Ich diene seit vierzehn Jahren; die
Hälfte von Ihren Leuten hatte bisher noch kein Pulver gerochen!
Nun, wie kommt es, daß sie uns eben geschlagen haben? Nur infolge
gänzlicher Unkenntnis der Kriegskunst, durch nichts weiter.
[Verachtungsvoll:] Ich habe nie einen größeren Mangel an
Berufskenntnis gesehen!
Raina [ironisch]: Oh, war es Mangel an Berufskenntnis, Sie zu
schlagen?
Der Flüchtling: So hören Sie! Halten Sie es für militärisch, ein
Kavallerieregiment einer Schnellfeuerbatterie entgegenzuwerfen mit
der Gewißheit, daß, falls die Kanonen losgehen, weder Pferd noch
Mann jemals der Batterie auf fünfzig Meter nahe kommen? Ich traute
meinen Augen kaum, als ich den Blödsinn sah.
Raina [wendet sich freudig zu ihm, erregt, weil ihr Enthusiasmus und
ihre Ruhmesträume sie wieder überkommen]: Haben Sie die große
Kavallerieattacke gesehen? Oh, erzählen Sie mir davon, beschreiben
Sie sie mir.
Der Flüchtling: Sie haben noch niemals eine Kavallerieattacke gesehen,
nicht wahr?
Raina: Wie sollte ich!

Der Flüchtling: Natürlich, woher auch! Na, es ist ein spaßhafter
Anblick. Gerade, als ob man eine Handvoll Erbsen gegen eine
Fensterscheibe schleuderte. Erst kommt einer, dann zwei oder drei
dicht hinterher, und dann in einer Reihe die ganze Rotte.
Raina [mit weiten Augen, erbebt sich, während sie die Hände begeistert
zusammenschlägt]: Ja, zuerst ein einziger, der Tapferste der Tapferen!
Der Flüchtling [prosaisch]: Na, Sie sollten sehen, wie der arme Teufel
versucht sein Pferd zurückzuhalten.
Raina: Warum sollte er sein Pferd zurückhalten?
Der Flüchtling [ungeduldig über die dumme Frage]: Na, weil es doch
mit ihm durchgeht, natürlich. Glauben Sie, daß der Bursche Lust hat,
als Erster anzukommen, um so vor allen andern getötet zu werden?
Dann kommen die übrigen heran. Alle. Sie können die Jungen an ihrer
Wildheit und Schneidigkeit erkennen, die Alten kommen in
geschlossenen Haufen daher, sie wissen, daß sie nur Kanonenfutter sind
und daß es keinen Zweck hat, einen Kampf zu versuchen. Die meisten
Wunden sind gebrochene Kniescheiben infolge des Zusammenprallens
der Pferde.
Raina: Schrecklich! Aber ich glaube nicht, daß der erste Reiter ein
Feigling ist--ich glaube, er ist ein Held.
Der Flüchtling [gutmütig]: Das würden Sie auch gesagt haben, wenn
Sie HEUTE den ersten Reiter bei der Attacke gesehen hätten!!
Raina [atemlos, ihm alles verzeihend]: Ah, ich wußte es! Erzählen Sie,
erzählen Sie mir von ihm!
Der Flüchtling: Er benahm sich wie ein Operettentenor--ein
wohlgebauter, hübscher Bursche mit sprühenden Augen
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