Helden | Page 5

George Bernard Shaw
sich sofort ankleiden.
Raina [scheinbar ärgerlich, daß sie gestört wird]: Hier lasse ich sie

nicht suchen. Warum hat man sie eingelassen?!
Katharina [hastig hereinstürzend]: Raina, mein Liebling, dir ist doch
nichts passiert? Hast du irgend etwas gesehen oder gehört?
Raina: Ich hörte nur schießen; aber ich hoffe, die Soldaten werden es
nicht wagen, hier in mein Schlafzimmer einzudringen!
Katharina: An ihrer Spitze ist ein russischer Offizier--dem Himmel sei
Dank. Er kennt Sergius. [Spricht durch die Tür zu jemand, der draußen
steht:] Bitte treten Sie ein, Herr Leutnant; meine Tochter ist bereit, Sie
zu empfangen. [Ein junger russischer Offizier in bulgarischer Uniform
tritt ein, den Säbel in der Faust.]
Russischer Offizier [mit sanfter geschmeidiger Höflichkeit und steifer
militärischer Haltung]: Guten Abend, gnädiges Fräulein. Ich bedaure,
hier eindringen zu müssen, aber ein Flüchtling ist auf Ihrem Balkon
versteckt. Wollen Sie und Ihre gnädige Frau Mutter so gut sein und
sich zurückziehen, während wir ihn suchen?
Raina [ungeduldig]: Unsinn! Sie sehen von hier aus, daß niemand auf
dem Balkon sein kann. [Sie stößt die Läden weit auf, steht mit dem
Rücken gegen den Vorhang, hinter dem der Flüchtling versteckt ist und
zeigt auf den vom Mond beschienenen Balkon. Zwei Schüsse fallen
direkt unter dem Fenster, und eine Kugel zertrümmert das Fensterglas
gegenüber von Raina, sie schließt einen Moment die Augen und atmet
schwer, aber hält sich tapfer, während Katharina aufschreit und der
Offizier mit dem Ausruf "Geben Sie Acht" auf den Balkon
hinausstürzt.]
Russischer Offizier [auf dem Balkon, schreit wütend in die Straße
hinunter]: Hört auf, hier herein zu schießen, ihr Dummköpfe,
verstanden! Hört auf zu feuern, verfluchte Kerle! [Er starrt einen
Augenblick hinunter, dann wendet er sich zu Raina und versucht, seine
höfliche Stellung von vorhin wieder einzunehmen.] Konnte jemand
ohne Ihr Wissen hier eindringen? Schliefen Sie?
Raina: Nein, ich war noch nicht zu Bett.
Russischer Offizier [tritt ungeduldig in das Zimmer zurück]: Ihre
Nachbarn haben die Köpfe so voll mit davongelaufenen Serben, daß sie
überall welche sehen. [Höflich]: Gnädiges Fräulein, ich bitte
tausendmal um Verzeihung. Gute Nacht. [Verneigt sich militärisch.
Raina erwidert den Gruß kalt, er verneigt sich vor Katharina, die ihn
hinausbegleitet. Raina schließt die Läden. Sie wendet sich um und

bemerkt Louka, die diese Szene neugierig beobachtet hat.]
Raina: Lassen Sie meine Mutter nicht allein, Louka, während die
Soldaten da sind. [Louka blickt auf Raina, auf die Ottomane, auf den
Vorhang, dann spitzt sie die Lippen diskret, lacht in sich hinein und
geht hinaus. Raina, durch dieses Mienenspiel sehr beleidigt, folgt ihr
bis an die Tür und schlägt sie hinter ihr zu, sie geräuschvoll verriegelnd.
Der Flüchtling tritt sofort hinter dem Vorhang hervor, steckt seinen
Säbel ein und schüttelt in gleichsam geschäftlicher Weise die Gefahr
von sich ab.]
Der Flüchtling: Um ein Haar,,, doch um ein Haar ist auch gefehlt.
Verehrtes Fräulein, Ihr Sklave bis in den Tod! Ich wünschte jetzt
Ihretwegen, ich wäre in die bulgarische Armee statt in die serbische
eingetreten. Ich bin kein Serbe von Geburt.
Raina [hochmütig]: Nein, Sie sind einer von jenen Österreichern, die
die Serben zum Raub unserer nationalen Freiheit verleiten und die
serbische Armee mit Offizieren versehen. Wir hassen sie.
Der Flüchtling: Österreicher? O nein! Ich bin keiner. Hassen Sie mich
also nicht. Ich bin Schweizer, gnädiges Fräulein, und kämpfe bloß als
Berufssoldat; ich ging zu den Serben, weil sie auf dem Wege aus der
Schweiz mir zunächst waren. Seien Sie großmütig. Ihre Landsleute
haben uns ohnedies aufs Haupt geschlagen.
Raina: War ich vielleicht nicht großmütig?
Der Flüchtling: Edel, heldenhaft! Doch ich bin noch nicht gerettet. Der
schlimmste Ansturm ist bald vorüber, aber die Verfolgung wird mit
Unterbrechungen die ganze Nacht hindurch fortgesetzt werden; ich
muß trachten, mich in einem günstigen Augenblick aus dem Staube zu
machen. Sie sind doch nicht böse, wenn ich hier noch ein bis zwei
Minuten warte?
Raina: O nein, ich bedaure nur, daß Sie sich abermals in Gefahr
begeben müssen. [Auf die Ottomane weisend:] Bitte, setzen Sie sich!
[Sie hält mit einem nicht zu unterdrückenden Angstschrei inne, als sie
die Pistole auf der Ottomane erblickt.]
Der Flüchtling [übernervös, fährt zurück wie ein scheuendes Pferd.
Erregt]: Mich so zu erschrecken! Was ist denn los?
Raina: Ihre Pistole. Der Offizier hat sie die ganze Zeit vor Augen
gehabt! Ihre Rettung ist ein Wunder!
Der Flüchtling [ärgerlich, so unnötigerweise geängstigt worden zu sein]:

Ach, weiter nichts?!
Raina [blickt ihn hochmütig an und fühlt sich desto wohler, je mehr
ihre gute Meinung von ihm abnimmt]: Ich bedaure, Sie geängstigt zu
haben. [Sie nimmt die Pistole und reicht sie ihm]: Bitte, nehmen Sie,
zum Schutze gegen mich.
Der Flüchtling [lächelt müde über diesen Sarkasmus, während er die
Pistole nimmt]: Sie nützt mir nichts, sie ist nicht geladen. [Er grinst die
Pistole höhnisch an und schiebt sie verachtungsvoll in seine
Revolvertasche.]
Raina: So laden Sie sie meinetwegen!
Der Flüchtling: Ich habe keine Munition. Was nützen einem
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 33
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.