Helden | Page 4

George Bernard Shaw
die eines besonders aufgeweckten Babys,
aufrechte soldatische Haltung und eine energische Art; er besitzt volle
Geistesgegenwart trotz seiner verzweifelten Lage, die er sogar mit
einem Anflug von Humor betrachtet, ohne jedoch im geringsten damit
spielen zu wollen oder eine Rettungsmöglichkeit außer Acht zu
lasten.--Er überlegt, was er von Raina zu erwarten haben mag, schätzt
ihr Alter, ihre gesellschaftliche Stellung ab, ihren Charakter, den Grad
ihrer Furcht, alles mit einem Blick, und fährt höflicher, aber immer
äußerst entschlossen fort]: Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber
Sie erkennen wahrscheinlich meine Uniform, ich bin Serbe! Wenn ich
gefangen werde, wird man mich töten. [Drohend]: Begreifen Sie das?

Raina: Ja.
Der Flüchtling: Nun, ich habe keine Lust zu sterben, solange ich es
verhindern kann. [Noch fürchterlicher]: Begreifen Sie das? [Er
verschließt die Tür mit einem kurzen Schnappen des Schlosses.]
Raina [verachtungsvoll]: Es scheint, Sie haben keine. [Sie richtet sich
stolz auf und blickt ihm gerade ins Gesicht, während sie mit scharfer
Betonung spricht]: Es gibt Soldaten, die den Tod fürchten, das weiß
ich.
Der Flüchtling [mit Galgenhumor]: Alle fürchten ihn, verehrte Dame,
alle, glauben Sie mir. Es ist unsere Pflicht, so lange zu leben, wie wir
nur können, und wenn Sie Lärm schlagen-Raina [ihn unterbrechend]:
Dann werden Sie mich erschießen! Aber woher wissen Sie, daß ich den
Tod fürchte?
Der Flüchtling [schlau]: Und wenn ich Sie nicht erschieße, was wird
dann geschehen? Eine Rotte Ihrer Kavallerie--das elendeste Gesindel
Ihrer Armee--wird in dieses Ihr hübsches Zimmer einbrechen und mich
wie ein Schwein abschlachten. Denn ich werde mich wehren und
fechten wie ein Teufel. Sie sollen mich nicht auf die Straße bekommen
und sich an mir belustigen; ich weiß, wozu sie imstande sind. Sind Sie
bereit, in Ihrer augenblicklichen Verfassung, in dieser Toilette, eine
solche Gesellschaft zu empfangen?
[Raina besinnt sich in dem Moment auf ihr Nachtgewand, schreckt
instinktiv zusammen und zieht es enger um den Leib. Er beobachtet sie
und fügt ohne Erbarmen hinzu]: Kaum präsentabel, was? [Sie geht nach
der Ottomane, er richtet augenblicklich seine Pistole auf sie und ruft]:
Halt! [Sie bleibt stehen.] Wohin wollen Sie? Raina [mit würdevoller
Geduld]: Ich will nur meinen Mantel holen. Der Flüchtling [geht rasch
nach der Ottomane und reißt den Pelz an sich]: Ein guter Gedanke.
Nein, den Mantel behalte ich; dann werden Sie dafür sorgen, daß
niemand hier eindringt und Sie so sieht. Das ist eine bessere Waffe als
mein Revolver. [Er wirft den Revolver auf die Ottomane.]
Raina [empört]: Es ist nicht die Waffe eines Gentleman!
Der Flüchtling: Gut genug für einen Mann, wenn zwischen ihm und
dem Tod nur Sie stehen. [Während sie einander nun einen Augenblick
stumm betrachten, in welchem Raina kaum zu glauben vermag, daß
selbst ein serbischer Offizier so zynisch und selbstsüchtig und
unritterlich sein könne, werden sie durch ein scharfes Gewehrfeuer in

der Straße aufgeschreckt. Furchtbare Todesangst läßt den Flüchtling
seine Stimme dämpfen, als er hinzufügt]: Hören Sie? Wenn Sie diese
Halunken schon hereinlassen und auf mich hetzen wollen, so werden
Sie sie wenigstens empfangen, so wie Sie da sind. [Raina begegnet
seinen Blicken mit unerschrockener Verachtung. Plötzlich fährt er
horchend auf; man hört Schritte von außen, jemand drückt auf die
Klinke und klopft dann hastig und dringend. Raina sieht den Flüchtling
atemlos an, er wirft entschlossen den Kopf zurück, mit der Bewegung
eines Menschen, der nun weiß, daß er verloren ist, und indem er sein
Benehmen, das Raina einschüchtern sollte, aufgibt, wirft er ihr den
Mantel zu und ruft aufrichtig und artig]: Es ist umsonst, ich bin
verloren! Schnell, hüllen Sie sich in den Mantel, sie kommen!
Raina [fängt den Mantel hastig auf]: Oh--ich danke! [Sie wirft den
Mantel sehr erleichtert um, er zieht seinen Degen und wendet sich nach
der Tür und wartet.]
Louka [von außen klopfend]: Gnädiges Fräulein! gnädiges Fräulein!
Stehen Sie schnell auf und öffnen Sie die Tür!
Raina [ängstlich]: Was wollen Sie tun?
Der Flüchtling [grimmig]: Das ist jetzt einerlei, gehen Sie nur aus dem
Weg, es wird nicht lange dauern.
Raina [impulsiv]: Ich will Ihnen helfen! Verstecken Sie sich, oh,
verstecken Sie sich, schnell hinter diesen Vorhang. [Sie faßt ihn bei
einem zerrissenen Zipfel seines Ärmels und zieht ihn nach dem
Fenster.]
Der Flüchtling [ihr nachgehend]: Es ist noch ein Funken Hoffnung
vorhanden, wenn Sie Ihre Geistesgegenwart bewahren. Merken Sie sich:
von zehn Soldaten sind neun geborene Dummköpfe. [Er versteckt sich
hinter dem Vorhang, sieht aber noch einmal heraus und sagt:] Wenn sie
mich dennoch finden, so verspreche ich Ihnen einen Teufelskampf. [Er
verschwindet. Raina nimmt den Mantel ab und wirft ihn an das
Fußende des Bettes, dann öffnet sie mit schläfrigem, verstörtem Wesen
die Tür. Louka tritt aufgeregt ein.]
Louka. Ein Mann wurde gesehen, wie er die Dachrinne zu Ihrem
Balkon hinaufgeklettert ist, ein Serbe. Die Soldaten wollen ihm
nachsetzen und sind so wild und betrunken und wütend. Die Gnädige
läßt sagen, Sie möchten
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