Helden | Page 3

George Bernard Shaw
es heißt, sie könnten sich in die Stadt flüchten.
Unsere Kavallerie wird ihnen nachsetzen, und Sie können sicher sein,
daß unser Volk sie gebührend empfangen wird; jetzt, wo sie
davonlaufen. [Sie geht auf den Balkon hinaus, schließt die Außenläden
und tritt dann in das Zimmer zurück.]
Raina: Ich wollte, unsere Leute wären nicht so grausam. Was ist das für
ein Ruhm, arme Flüchtlinge niederzumachen?
Katharina [geschäftig, sich ihrer häuslichen Pflichten erinnernd]: Ich
muß zusehen, daß unten alles in Sicherheit gebracht wird.
Raina [zu Louka]: Laß die Läden so, daß ich sie schnell schließen kann,
sobald ich irgendwelchen Lärm höre.
Katharina [strenge, während sie ihren Weg nach der Tür fortsetzt]: O
nein, mein Kind, die Läden müssen verriegelt bleiben; du würdest
sicher darüber einschlafen und sie offen lassen. Riegele sie ganz zu,
Louka.
Louka: Jawohl, gnädige Frau. [Sie schließt sie.]
Raina: Sei ohne Sorge meinetwegen, sobald ich einen Schuß höre,
werde ich die Kerzen auslöschen, mich in mein Bett verkriechen und
die Decke über die Ohren ziehen.
Katharina: Das klügste, was du tun kannst, liebes Kind. Gute Nacht.

Raina: Gute Nacht, Mama. [Sie küssen einander, und Rainas
Ergriffenheit kehrt für einen Augenblick zurück.] Beglückwünsche
mich zu der schönsten Nacht meines Lebens--wenn nur die Flüchtlinge
nicht wären.
Katharina: Geh zu Bett, Liebling, und denk nicht daran. [Geht ab.]
Louka [heimlich zu Raina]: Wenn Sie die Läden offen haben wollen,
stoßen Sie nur ein wenig--so! [Sie stößt ein wenig gegen die Läden, die
Läden gehen auf, dann schließt sie sie wieder.] Der eine müßte unten
verriegelt werden, aber der Riegel ist abgebrochen.
Raina [würdevoll, mißbilligend]: Danke, Louka, aber wir müssen tun,
was uns befohlen wird. [Louka schneidet ein Gesicht.] Gute Nacht!
Louka [nachlässig]: Gute Nacht. [Sie stolziert ab.]
Raina [allein gelassen, gebt nach der Kommode und betet das darauf
befindliche Bild mit Empfindungen an, die über jeden Ausdruck sind.
Sie küßt es weder, noch preßt sie es ans Herz, noch gibt sie ihm
irgendein Zeichen von körperlicher Zärtlichkeit, aber sie nimmt es in
die Hände und hebt es empor, wie eine Priesterin.--Das Bild
betrachtend]: Oh, ich werde mich nie mehr deiner unwert zeigen. Held
meiner Seele--nie, nie, nie! [Sie setzt das Bild ehrfürchtig zurück, dann
wählt sie einen Roman aus dem kleinen Bücherstoß. Verträumt blättert
sie darin, findet, wo sie stehen geblieben ist, biegt das Buch an dieser
Stelle nach außen zusammen, und mit einem glücklichen Seufzer sinkt
sie auf das Bett, um sich in den Schlaf zu lesen. Bevor sie sich jedoch
ihrem Roman überläßt, blickt sie noch einmal auf, gedenkt der seligen
Wirklichkeit und murmelt]: Mein Held! mein Held! [Ein entfernter
Schuß durchbricht draußen die Stille der Nacht. Sie fährt horchend
auf,--da fallen noch zwei Schüsse aus viel größerer Nähe. Sie erschrickt,
stürzt aus dem Bett und bläst die Kerze auf der Kommode rasch aus.
Dann läuft sie, mit den Händen an den Ohren, zum Toilettetisch, bläst
die Kerze auch dort aus und eilt im Dunkeln in ihr Bett zurück, man
unterscheidet nichts mehr in der Stube als einen Lichtschimmer aus der
durchbrochenen Metallkugel vor dem Christusbilde und das
Sternenlicht, das durch die Spalten der Fensterläden glänzt. Abermals
fallen Schüsse, ein fürchterliches Gewehrfeuer ist ganz nahe. Während
man noch das Echo der Salve hört, werden die Fensterläden von außen
aufgestoßen, für einen Augenblick flutet in einem Rechteck das
schneeige Sternenlicht plötzlich herein, von dem sich die dunkle

Silhouette einer männlichen Gestalt abhebt. Dann schließen sich die
Läden wieder, und das Zimmer liegt abermals im Dunkeln. Aber jetzt
wird das Schweigen durch ein keuchendes Atemholen unterbrochen,
dann hört man ein Kratzen, und die Flamme eines Streichholzes wird in
der Mitte des Zimmers sichtbar.]
Raina [aufs Bett gekauert]: Wer ist da? [Das Streichholz verlischt
sofort wieder.] Wer ist da--wer ist da?
[Eines Mannes Stimme gedämpft aber drohend]: Scht! Schreien Sie
nicht, sonst schieße ich! Bleiben Sie ruhig, und es wird Ihnen nichts
geschehen. [Man hört, wie sie ihr Bett verläßt und nach der Tür tastet.]
Nehmen Sie sich in acht, es hilft Ihnen nichts, wenn Sie davonlaufen
wollen. Merken Sie sich, sobald Sie Ihre Stimme erheben, wird mein
Revolver losgehen. [Befehlend:] Machen Sie Licht und lassen Sie sich
sehen! Hören Sie! [Noch ein Augenblick der Stille und Dunkelheit,
während Raina an den Toilettetisch zurücktritt. Dann zündet sie die
Kerze an, und das Rätsel löst sich.--Ein Mann von ungefähr
fünfunddreißig Jahren, in bejammernswürdigem Zustande, mit Kot,
Blut und Schnee bespritzt, steht vor ihr. Sein Degengehänge und der
Riemen seiner Revolvertasche halten die Fetzen des blauen
Waffenrocks eines serbischen Artillerieoffiziers zusammen. Alles was
man beim Kerzenlichte aus dem ungewaschenen, verwahrlosten
Aussehen des Mannes halbwegs erkennen kann, ist, daß er mittelgroß,
von nicht sehr vornehmem Aussehen, breitschultrig und starkknochig
ist. Sein rundlicher, eigensinnig aussehender Kopf ist mit kurzen
braunen Locken bedeckt. Er hat klare, bewegliche, blaue Augen,
gutmütige Brauen und einen freundlichen Mund, eine hoffnungslos
prosaische Nase wie
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