Heimatlos | Page 8

Johanna Spyri
die
Stube hinein und halte dich still. Der Vater liegt oben in der Kammer;
sie haben ihn auf einem Wagen gebracht, er ist krank.«

Rico ging hinein und setzte sich auf die Bank an der Wand und
bewegte sich nicht. So saß er eine gute halbe Stunde lang; die Base fuhr
noch immer in der Küche herum. Da dachte Rico, er wolle ganz leise in
die Kammer hineinschauen, vielleicht wollte der Vater auch etwas zu
Abend essen, es war schon lange Zeit dazu.
Er schlich hinter dem Ofen die kleine Treppe hinauf und kroch in die
Kammer hinein. Nach einiger Zeit kam er wieder und ging gleich in die
Küche hinaus und bis nahe zur Base heran. Dann sagte er leise: »Base,
kommt!«
Diese wollte ihn eben tüchtig anfahren, als ihre Blicke auf sein Gesicht
fielen: es war völlig ohne Farbe, Wangen und Lippen weiß wie ein
Tuch, und aus den Augen schaute er so schwarz, daß ihn die Base fast
fürchtete.
»Was hast du?« fragte sie hastig und folgte ihm unwillkürlich.
Er ging leise das Treppchen hinauf und in die Kammer hinein. Da lag
der Vater mit starren Augen auf seinem Bett; er war tot.
»Ach, du mein Gott«, schrie die Base und lief mit Lärm zur Tür hinaus,
die auf der anderen Seite auf den Gang führte, die Treppe hinunter und
gleich hinüber in die Stube hinein und rief, der Nachbar und die
Großmutter sollten herüberkommen, und von da lief sie zum Lehrer
und zum Gemeindevorsteher.
So kam eins ums andere und trat in die stille Kammer hinein, bis sie
voll von Menschen war, denn einer hörte draußen vom anderen, was
geschehen sei. Und mitten in dem Gewimmel und den vielen
klaghaften Worten von all' den Nachbarn stand Rico an dem Bette,
lautlos und unbeweglich, und schaute den Vater an. -- Die ganze
Woche durch kamen täglich noch Leute ins Haus, die den Vater
ansehen und von der Base hören wollten, wie alles zugegangen sei, so
daß es Rico ein Mal über das andere erzählen hörte: Sein Vater hatte
drunten im St. Gallischen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim
Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und
da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um

sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fuß,
teils auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen können, war am
Sonntag gegen Abend daheim angelangt und hatte sich auf sein Bett
gelegt, um nicht wieder aufzustehen; ohne daß ihn jemand gesehen
hatte, war er verschieden; denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt
auf dem Bette gefunden. Am Sonntag darauf wurde der Mann begraben.
Rico war der einzige Leidtragende, der dem Sarge folgte, einige gute
Nachbarn hatten sich noch angeschlossen; so ging der Zug hinüber
nach Sils. Dort hörte Rico, wie der Herr Pfarrer in der Kirche laut ablas:
»Der Verstorbene hieß Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera
am Gardasee.«
Da war es Rico, als hörte er etwas, das er ganz gut gewußt, aber gar
nicht mehr hatte zusammenfinden können. Immer hatte er auch den See
vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:
#»Una sera In Peschiera.«#
Aber er hatte nicht gewußt, warum. Leise mußte er die Namen
wiederholen, eine Menge alter Lieder stiegen damit vor seinen Augen
auf.
Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Großmutter auf dem
Holzstumpf sitzen und neben ihr das Stineli. Sie winkte ihn zu sich.
Dann steckte sie ihm ein Stück Birnbrot in die Tasche, wie sie vorher
dem Stineli getan hatte, und sagte, nun sollten sie spazieren gehen, an
dem Tage müsse Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder
zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Großmutter blieb auf ihrem
Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis
sie nichts mehr von den Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für
sich:
»Doch was Er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End'!«

Sechstes Kapitel.
Ricos Mutter.

Über den Weg von Sils her kam an einem Stab der Lehrer gegangen. Er
hatte an dem Begräbnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als
er nun bei der Großmutter angekommen war und einen »Guten Abend«
geboten hatte, setzte er hinzu: »Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, so
sitze ich einen Augenblick neben Euch, denn ich habe es stark in dem
Hals und auf der Brust; aber was kann unsereins sagen mit bald siebzig
Jahren, wenn man solche begräbt, wie den heute. Er war noch nicht
fünfunddreißig und ein Mann wie ein Baum.«
Der Lehrer hatte sich neben die Großmutter niedergesetzt.
»Es gibt mir auch zu denken«, sagte diese, »daß ich, eine Alte,
Fünfundsiebzigjährige, übrig bleibe und da und dort ein Junges fort
muß, von dem man denkt, es wäre noch nötig gewesen.«
»Die Alten werden auch noch zu etwas gut
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