Heimatlos | Page 9

Johanna Spyri
sein. Wo wäre sonst ein
Beispiel für die Jungen?« bemerkte der Lehrer. »Aber was meint Ihr,
Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein werden da drüben?«
»Ja, was soll aus dem Büblein werden?« wiederholte die Großmutter;
»ich frage auch so, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so
wüßte ich keine Antwort. Aber es ist noch ein Vater im Himmel, der
die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein
finden.«
»Sagt mir einmal, Nachbarin: wie ging es zu, daß der Italiener die
Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man weiß
doch nie, woher solche fremde Menschen kommen und was mit ihnen
ist.«
»Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wißt ja, meine alte Bekannte,
die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den Mann,
und lebte allein drüben im Häuschen mit dem Marie-Seppli, das ein
lustiges Töchterlein war. Es mögen jetzt elf oder zwölf Jahre sein, da
kam der Trevillo zuerst hierher. Er hatte Arbeit oben am Maloja und
kam etwa hier herunter mit den Burschen, und kaum hatten das
Marie-Seppli und er einander gesehen, so wurden sie einig, sie wollten
einander haben. Und das muß man dem Trevillo nachsagen, er war

nicht nur ein schöner Bursche, der jedem gefallen konnte, sondern auch
ein anständiger und rechtschaffener Mensch, die Anne-Dete hatte
selber ihre Freude an ihm. Sie hätte nun freilich gern gewollt, die
beiden blieben bei ihr im Häuschen, und der Trevillo hätte es gern
getan, er konnte es gut mit der Mutter, und dem Marie-Seppli tat er,
was es nur wollte. Er war aber manchmal mit ihm nach dem Maloja
hinaufspaziert und hatte die Straße hinuntergeschaut, die man so sieht,
wie sie weit ins Tal hinabgeht, und er hatte ihr erzählt, wie es unten sei,
wo er daheim war. Da hatte sich das Marie-Seppli in den Kopf gesetzt,
es wolle dort hinunter, und es half alles nichts, wie auch die Mutter
anhielt und jammerte, sie könnten nicht leben da unten. Da sagte aber
der Trevillo, deswegen müsse sie nicht Angst haben, er habe ein
Gütlein und ein Häuschen unten; er sei nur lieber ein wenig in die Welt
hinausgezogen. -- Jetzt hatte er das Marie-Seppli gewonnen, und nach
der Hochzeit wollte es auf der Stelle den Berg hinunter. Es schrieb
dann etwa der Mutter, daß es ihm gut gehe und der Trevillo der beste
Mann sei.
»Aber nach etwa fünf oder sechs Jahren trat eines Tages der Trevillo
drüben in der Stube ein bei der Anne-Dete und hatte ein Büblein an der
Hand und sagte: 'Da, Mutter, das ist noch das einzige, was ich vom
Marie-Seppli habe; es liegt begraben dort unten mit seinen anderen
kleinen Kindern. Der war sein erstes und sein liebstes.'
»So hat sie's mir erzählt. Dann sei er auf die Bank niedergesessen, wo
er zuerst das Marie-Seppli gesehen hatte, und habe gesagt: da wolle er
bleiben mit seinem Büblein, wenn's der Mutter recht sei; denn dort
unten habe er's nicht mehr ausgehalten.
»Das war Freud' und Leid miteinander für die Anne-Dete. Der kleine
Rico war etwas zu vier Jahren und war ein zahmes, nachdenkliches
Büblein, ohne Lärm und Unart, es war ihre letzte Freude, ein Jahr
nachher starb sie schon, und man riet dem Trevillo, die Base der
Anne-Dete zu sich zu nehmen für den Haushalt und das Kind.«
»So, so«, machte der Lehrer, als die Großmutter schwieg; »das habe ich
alles nicht so gewußt. Es kann nun sein, daß sich etwa Verwandte von
dem Trevillo zeigen mit der Zeit, und man kann sie anhalten, etwas für

den Knaben zu tun.«
»Verwandte«, seufzte die Großmutter, »die Base ist auch eine
Verwandte, von ihr bekommt er wenig gute Worte im Jahr.«
Der Lehrer stand mühsam auf von seinem Sitz. »Mit mir geht's bergab,
Nachbarin«, sagte er kopfschüttelnd; »ich weiß nicht, wo meine Kräfte
hingekommen sind.«
Die Großmutter ermunterte ihn und sagte: er sei ja noch ein junger
Mann im Vergleich zu ihr. Sie mußte sich aber doch verwundern, wie
langsam er davonging.

Siebentes Kapitel.
Ein kostbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser.
Es kamen nun viele schöne Sommertage, und wo die Großmutter nur
konnte, richtete sie es ein, daß das Stineli einen freien Augenblick
bekam; aber es gab immer mehr zu tun in dem Hause. Rico stand
manche Stunde auf seiner Schwelle und staunte und sah nach der Tür
drüben, ob das Stineli komme.
Gegen den September, wenn die Leute oft noch vor den Häusern saßen,
um sich der letzten warmen Abende zu freuen, da saß auch der Lehrer
noch etwa vor seiner Tür; aber er sah ganz abgemagert aus und keuchte
immer mehr, und eines Morgens, als er aufstehen wollte, hatte er die
Kraft nicht mehr und fiel wieder auf sein Kissen zurück. Da lag er denn
ganz still und fing an, allerlei zu bedenken,
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