Heidis Lehr - und Wanderjahre | Page 5

Johanna Spyri
sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte
gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das
Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze
willen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das
Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im leichten
Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen
vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf
ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und
neben dem Peter her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft.
Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider
liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und
sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber
nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein
Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste
auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geißen
er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er

hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei
der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte
diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie:
"Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock
und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir
gekauft auf den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort!
Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?"
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein roter
Punkt, das musste das Halstuch sein.
"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
sein?"
"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus
über seine Tat.
"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer sollte
nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf
du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht
dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt."
"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu
rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände in die
Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.
"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm her, du
musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein neues
Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf
und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in
ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte
sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base rühmen musste
und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es
schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in

voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.
"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her.
So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei
auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen
Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit
der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei
alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten
ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen,
erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp
und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan.
An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank
gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine
Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die
Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von
den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus
auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen
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