Heidis Lehr - und Wanderjahre | Page 6

Johanna Spyri
und sagte: "Guten
Abend, Großvater!"
"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem Kinde
kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick
an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen
Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern,
denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen
Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und
aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen,
dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base
herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille stand und zusah,
was sich da ereigne.
"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend, "und

hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet
es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr es nie mehr
gesehen."
"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du dort",
rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist nicht
zu früh; nimm meine mit!"
Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre
durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun."
"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. "Und
wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie
kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast, es
habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen
alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt
muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind;
wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann
habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht
nötig haben, noch etwas aufzuladen."
Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie
so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte.
Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an,
dass sie einige Schritte zurückwich; dann streckte er den Arm aus und
sagte befehlend: "Mach, dass du hinunterkommst, wo du
heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!" Das ließ
sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt wohl, und du auch, Heidi",
sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli
hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame
Dampfkraft. Im Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen,

denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die
Dete genau und wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm
vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo
ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
hört's ja!"
Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!", und:
"So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder und
wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie konnte, weiter
und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht wohl bei
der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben.
Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder
etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie
sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten,
weg- und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.

Beim Großvater
Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die
Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei
starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das
Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte
angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind setzte
seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten
Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es sauste und
brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es
ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der
Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es
diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte,
stellte es sich vor ihn hin,
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