Heidi kann brauchen, was es gelernt hat | Page 6

Johanna Spyri
du denn schon?« fragte
freundlich lächelnd der Herr Doktor.
»Daß ich wieder heim konnte zum Großvater«, erklärte ihm das Kind.
Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenschein über das Gesicht.
Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner
Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg
hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um
ihn her war und daß es immer schöner wurde. Er hatte angenommen,
das Kind Heidi werde ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig
gesehen, und er kam sich vor wie einer, der kommt, den Leuten eine
Enttäuschung zu bereiten, und den sie darum nicht ansehen mögen,
weil er ja die erwarteten Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen
leuchtete dem Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank
und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest.
Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der
Hand. »Komm, Heidi«, sagte er in freundlichster Weise, »führe mich
nun zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist.«
Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg
hinunter.
»Wo sind denn Klara und die Großmama?« fragte es jetzt.
»Ja, nun muß ich dir's sagen, was dir leid tun wird wie mir auch«,
erwiderte der Herr Doktor. »Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war
recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die

Großmama nicht mit. Aber dann im Frühjahr, wenn die Tage wieder
warm und schön lang werden, dann kommen sie ganz sicher.«
Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, daß es
nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht
mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt von
dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und
ringsum war alles still, nur hoch oben hörte man den Wind durch die
Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es
heruntergelaufen sei und daß der Herr Doktor ja gekommen sei. Es
schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm
niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie
gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das
ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, daß jemand traurig
war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiß war er so, weil Klara
und die Großmama nicht hatten mitkommen können. Es suchte schnell
nach einem Trost und fand ihn.
»Oh, es währt gewiß nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann
kommen sie ja bestimmt«, tröstete das Heidi. »Bei uns währt es gar nie
lange, und dann können sie ja viel länger dableiben, das will die Klara
gewiß noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Großvater hinauf.« Hand
in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu der Hütte hinan. Es war
dem Heidi so sehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu
machen, daß es ihn noch einmal zu überzeugen anfing, es währe so
wenig lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage
wiederkommen, daß man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi
selbst so überzeugt von seinem Trost, daß es oben dem Großvater ganz
fröhlich entgegenrief:
»Sie sind noch nicht da, aber es währt gar nicht lange, so kommen sie
auch.«
Für den Großvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja
so viel von ihm gesprochen. Der Alte streckte seinem Gaste die Hand
entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann setzten sich die
Männer auf die Bank an der Hütte. Auch für das Heidi wurde da noch
ein Plätzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, daß

es neben ihm sitzen solle. Nun fing er an zu erzählen, wie Herr
Sesemann ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, und wie er auch
selbst gefunden, es möchte gut für ihn sein, da er sich seit langem nicht
mehr recht frisch und rüstig fühle. Dem Heidi sagte er dann ins Ohr, es
werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit
hergereist sei und ihm eine viel größere Freude machen werde als der
alte Doktor. Das Heidi war sehr gespannt darauf zu erfahren, was das
sein könne. Der Großvater ermunterte den Herrn Doktor sehr, die
schönen Herbsttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigstens an
jedem schönen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu
konnte ihn der Almöhi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den
Herrn zu logieren. Er riet aber seinem Gaste, nicht bis nach Ragaz
zurückzukehren, sondern unten im Dörfli ein Zimmer zu beziehen, das
er im dortigen Wirthause in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art
finden werde. So könnte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm
heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi,
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