Anni fing gleich an, uns »die Geschichte von dem tugendhaftigen
Prinzen Treuherz und der wonnesamen Prinzessin Herzelaide«
vorzulesen, aber der Genuß war nur mäßig. Sie blieb immer wieder an
den feinen Schnörkelchen der Buchstaben hängen, und da die Sätze
endlos lang waren, hielt sie an, wenn der Atem ausging, was nicht zur
Erleichterung des Verständnisses beitrug.
Gretchen gähnte unverhohlen. Elschen spielte längst mit ihrer Puppe,
da ging auch mir die Geduld aus.
»Laß doch die gräßlichen alten Prinzen und Prinzessinnen in Ruh!
Man versteht ja gar nicht, was sie miteinander sprechen. Und richtig
ordentlich schreiben konnten die Leute früher scheint's auch nicht. Wir
wollen das Buch wieder in die Truhe werfen.«
Das Schließen des Deckels war viel leichter zu bewerkstelligen als das
Öffnen. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die Truhe, und fortan war
sie vor unserer Neugier sicher.
[Illustration]
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Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab
und schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal
erneuert werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere
Mal war sie den Buben in die Hände gefallen.
Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen
ohne sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die
Unterhaltung nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder.
Wenn man im Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ,
aßen und tranken sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und
statt des Dankes brummten sie über »das bißchen Zeug«.
Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem
unvergleichlichen »Pflumeboppi, 's Hüsli brennt!« gingen wir Mädel
und Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz
besonderen Anlaß.
Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem
sich die beiden, durch den Strom getrennten Stadthälften
zusammengeschlossen hatten, mit der Aufführung eines historischen,
eigens für die Gelegenheit verfaßten Festspiels.
Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am
zweiten Tag -- die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren
Erinnerungen -- waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder
zugegen.
Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben
ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir
getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und
konnten das Geschaute besprechen.
Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie
er sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze
Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von
der königlichen Würde.
Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch
von den Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. »Ich wollte,
wir hätten auch welche!« meinte sie seufzend. »Unsere kurzen Röcke
und Socken sehen gar nicht schön aus.«
Damit war ich jedoch nicht einverstanden.
»Denk dir doch, wie unangenehm die dummen, langen Kleider beim
Springen wären! Der 'Pflumeboppi' z. B. fiele alle Augenblicke auf die
Nase.«
»Ja, das ist wahr!« stimmte mir Anni zu. »Wer hat denn dir am besten
gefallen, Mixi? -- Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!«
»Gar nicht!« wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die
Haarwurzeln steigen fühlte.
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»Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der
Priester am besten gefallen.«
»Der alte, heidnische Kerl!« Anni war entrüstet. Das gutmütige
Gretchen, wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu
verhelfen, meinte tröstlich: »Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.«
»Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als er
sich den Dolch ins Herz stieß?«
»Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst
gar keine so fürchterlichen Augen zu machen, es ist ja doch alles nicht
wahr.«
Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am
meisten fürchtete und haßte -- -- es ist nicht wahr.
Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die
einen halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein
sollte!
Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das
waren ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen
Pagen hatte ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß
er in Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber
wozu daran denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben.
Das gehörte in die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und
Gemüse-essen hieß.
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Die andere Welt, die man in sich trug, und die sich doch so seltsam
weit ausbreitete, bis zu den weichen, weißen Wolken hinauf, bis zu den
winzigen Maßliebchen und Marienkäferchen hinab -- diese Welt war
weit schöner und heimatlicher.
* * * * *
»Mixi, was träumst du wieder! So hör' doch! Ich habe einen
wunderschönen Plan. Wir wollen das Festspiel aufführen, daheim in
unsrer Bodenkammer. Dann kannst du ja deinen alten Priester
spielen.«
»Nein, nein! Das soll Teddy tun. Ich will den Kaiser Valentinian, du
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