Hansi | Page 6

Ida Frohnmeyer
gezogen, richtete ich mich
auf und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.
Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige
Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen
und tippte mit seinen rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie
lachte dazu und sagte: »Was für ein komischer alter Mann!«
Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir
beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte
mit merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe
mitleidig auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.

Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war
sie die Überlegene, die Tonangebende.
»Wollen wir ihn begraben?« fragte die Kleine plötzlich, und wir
stimmten begeistert zu.
Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach
einem Sarg umsehen. Gretchen ging auf die Suche nach der
Begräbnisstätte und dem Grabstein. Ich übernahm es, die Inschrift zu
schreiben. Elschen, immer noch den Schädel im Schürzchen, lehnte
neben mir und schaute bewundernd zu, wie ich mit krampfhaft
festgehaltenem Federhalter meine großen, steifen Buchstaben malte.
»Lies es mir einmal vor!« bat sie, als das Werk beendet war, und ich
las:
+------------------------------------------+ | | | Hier ruht unser liber
Uhruhrgroßvater. | | -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- | | Gottes Brünnlein hat
Wassers die Fülle. | | -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- |
+------------------------------------------+
»Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,« sagte Anni,
mißbilligend das Schriftstück betrachtend. »Auf Gräber schreibt man
ganz andere Sachen. Etwas von Auferstehen oder Wiedersehen.«
»Das ist mir einerlei!« entgegnete ich unerschüttert. »Mir gefällt der
Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden.«
Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.
»Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!«
[Illustration]
Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel
wollte zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen
Fetzen schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus
ging Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die

den Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite
dar.
Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe
hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses.
Sie war eine zierliche, bewegliche Frau mit lebhaften Augen, die sich
stets zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten,
ärgerlich und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen
waren noch zwei größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen.
Das zappelte und schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die
Mutter herum, zerriß Kleider und Strümpfe, beschmutzte Fußböden und
Fensterscheiben, wollte gewaschen und gefüttert sein. In dem allem
stand die kleine Mutter, trug den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh
und aufrecht und hatte lachende, warme Augen.
Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches.
Erst viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der
kleinen Mutter gewohnt hatte.
* * * * *
»Mama, wir müssen ganz still sein, wir spielen Begraben!« krähte
Elschen im Vorübergehen, und die Mutter stand denn auch andächtig
und still.
Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der in verschiedene
Abteilungen zerfiel. Da war ein freier Platz mit einem Sandhaufen für
die Kinder. In einem andern Teil standen Blumen und Ziersträucher
und wieder in einem andern lagen in schönen Reihen Gemüsebeete,
daneben zog sich eine dichte Himbeerhecke. Am Ende dieser Hecke
war der von Gretchen gewählte Begräbnisplatz. Sie hatte schon ein
Loch gegraben, das sich aber als viel zu flach erwies. So arbeiteten
Totengräber, Pfarrer und Trauergeleite mit vereinten Kräften, bis das
Loch tief genug war, den Ururgroßvater aufzunehmen.
Die Grabrede fiel kurz aus, um so kräftiger und anhaltender war der
Gesang. Wir hatten als passende Lieder gewählt: »Morgenrot,
Morgenrot! Leuchtest mir zum frühen Tod!« und: »Der Pilger aus der

Ferne zieht seiner Heimat zu.«
Elschen hatte noch vorgebracht »Wenn ich groß bin,« aber das war als
völlig unmöglich abgeschlagen worden. Überdies sank sie durch diese
Forderung in unserer Achtung wieder auf die frühere Stufe zurück.
An diesem Tag blieben wir bis zum Abendbrot im Garten. Der
Sonnenschein war so hell und freundlich, während über der alten
Bodenkammer immer noch etwas Unheimliches zu lagern schien. Aber
am nächsten Tag unterzogen wir den Inhalt der Truhe einer weiteren
Besichtigung.
Die Bücher rochen uralt und hatten schwere, feste Einbanddecken. Die
Schrift war merkwürdig schnörkelig und ließ sich nicht ohne Mühe
entziffern. Wir strengten uns auch nicht sonderlich an. Eine Menge der
Bücher wurden mit Abscheu zur Seite gelegt, weil sie sich als
»Doktorsbücher« erwiesen. Dasselbe Schicksal teilten ein paar
Andachtsbücher »auf Kosten einer wahrheitliebenden Gesellschaft
gedruckt«. Dann stieß Anni einen Schrei des Entzückens aus, denn sie
hatte ein Geschichtenbuch, nein, noch schöner, ein Märchenbuch
entdeckt. Wer hätte der Truhe diesen köstlichen Schatz angesehen!
[Illustration]
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